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Tieck, Ludwig: Phantasus. Bd. 1. Berlin, 1812.

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Erste Abtheilung.
verreise morgen in aller Frühe mit diesem Herrn
auf einige Tage über Land; ich spreche aber noch
bei dir vor, um Abschied zu nehmen. Schläfst du,
wie es wahrscheinlich ist, so bemühe dich nur nicht,
aufzuwachen, denn in drei Tagen bin ich wieder
bei dir. -- Der wunderlichste aller Menschen, fuhr
er fort, gegen seinen treuen Freund gewandt, so
schwerfällig, mißlaunig, ernsthaft, daß er sich jede
Freude verdirbt, oder vielmehr, daß es für ihn
keine Freude giebt. Alles soll edel, groß, erhaben
seyn, sein Herz soll an allem Antheil nehmen,
und wenn er selbst vor einem Puppenspiele stände;
wenn sich dergleichen nun nicht zu seinen Präten-
sionen verstehen will, die wahrlich ganz unsinnig
sind, so wird er tragisch gestimmt, und findet die
ganze Welt roh und barbarisch; da draußen ver-
langt er ohne Zweifel, daß unter den Masken
einem Pantalon und Policinell das Herz voll
Sehnsucht und überirdischer Triebe glühe, und daß
der Arlechin über die Nichtigkeit der Welt tiefsin-
nig philosophiren soll, und wenn diese Erwartun-
gen nicht eintreffen, so treten ihm gewiß die Thrä-
nen in die Augen, und er wendet dem bunten
Schauspiel zerknirscht und verachtend den Rücken.

Er ist also melankolisch? fragte der Zuhörer.

Das eigentlich nicht, antwortete Roderich, son-
dern nur von zu zärtlichen Eltern und sich selbst
verzogen. Er hatte sich angewöhnt, regelmäßig
wie Ebbe und Fluth sein Herz bewegen zu lassen,
und bleibt diese Rührung einmal aus, so schreit
er Mirakel und möchte Prämien aussetzen, um

Erſte Abtheilung.
verreiſe morgen in aller Fruͤhe mit dieſem Herrn
auf einige Tage uͤber Land; ich ſpreche aber noch
bei dir vor, um Abſchied zu nehmen. Schlaͤfſt du,
wie es wahrſcheinlich iſt, ſo bemuͤhe dich nur nicht,
aufzuwachen, denn in drei Tagen bin ich wieder
bei dir. — Der wunderlichſte aller Menſchen, fuhr
er fort, gegen ſeinen treuen Freund gewandt, ſo
ſchwerfaͤllig, mißlaunig, ernſthaft, daß er ſich jede
Freude verdirbt, oder vielmehr, daß es fuͤr ihn
keine Freude giebt. Alles ſoll edel, groß, erhaben
ſeyn, ſein Herz ſoll an allem Antheil nehmen,
und wenn er ſelbſt vor einem Puppenſpiele ſtaͤnde;
wenn ſich dergleichen nun nicht zu ſeinen Praͤten-
ſionen verſtehen will, die wahrlich ganz unſinnig
ſind, ſo wird er tragiſch geſtimmt, und findet die
ganze Welt roh und barbariſch; da draußen ver-
langt er ohne Zweifel, daß unter den Masken
einem Pantalon und Policinell das Herz voll
Sehnſucht und uͤberirdiſcher Triebe gluͤhe, und daß
der Arlechin uͤber die Nichtigkeit der Welt tiefſin-
nig philoſophiren ſoll, und wenn dieſe Erwartun-
gen nicht eintreffen, ſo treten ihm gewiß die Thraͤ-
nen in die Augen, und er wendet dem bunten
Schauſpiel zerknirſcht und verachtend den Ruͤcken.

Er iſt alſo melankoliſch? fragte der Zuhoͤrer.

Das eigentlich nicht, antwortete Roderich, ſon-
dern nur von zu zaͤrtlichen Eltern und ſich ſelbſt
verzogen. Er hatte ſich angewoͤhnt, regelmaͤßig
wie Ebbe und Fluth ſein Herz bewegen zu laſſen,
und bleibt dieſe Ruͤhrung einmal aus, ſo ſchreit
er Mirakel und moͤchte Praͤmien ausſetzen, um

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[290/0301] Erſte Abtheilung. verreiſe morgen in aller Fruͤhe mit dieſem Herrn auf einige Tage uͤber Land; ich ſpreche aber noch bei dir vor, um Abſchied zu nehmen. Schlaͤfſt du, wie es wahrſcheinlich iſt, ſo bemuͤhe dich nur nicht, aufzuwachen, denn in drei Tagen bin ich wieder bei dir. — Der wunderlichſte aller Menſchen, fuhr er fort, gegen ſeinen treuen Freund gewandt, ſo ſchwerfaͤllig, mißlaunig, ernſthaft, daß er ſich jede Freude verdirbt, oder vielmehr, daß es fuͤr ihn keine Freude giebt. Alles ſoll edel, groß, erhaben ſeyn, ſein Herz ſoll an allem Antheil nehmen, und wenn er ſelbſt vor einem Puppenſpiele ſtaͤnde; wenn ſich dergleichen nun nicht zu ſeinen Praͤten- ſionen verſtehen will, die wahrlich ganz unſinnig ſind, ſo wird er tragiſch geſtimmt, und findet die ganze Welt roh und barbariſch; da draußen ver- langt er ohne Zweifel, daß unter den Masken einem Pantalon und Policinell das Herz voll Sehnſucht und uͤberirdiſcher Triebe gluͤhe, und daß der Arlechin uͤber die Nichtigkeit der Welt tiefſin- nig philoſophiren ſoll, und wenn dieſe Erwartun- gen nicht eintreffen, ſo treten ihm gewiß die Thraͤ- nen in die Augen, und er wendet dem bunten Schauſpiel zerknirſcht und verachtend den Ruͤcken. Er iſt alſo melankoliſch? fragte der Zuhoͤrer. Das eigentlich nicht, antwortete Roderich, ſon- dern nur von zu zaͤrtlichen Eltern und ſich ſelbſt verzogen. Er hatte ſich angewoͤhnt, regelmaͤßig wie Ebbe und Fluth ſein Herz bewegen zu laſſen, und bleibt dieſe Ruͤhrung einmal aus, ſo ſchreit er Mirakel und moͤchte Praͤmien ausſetzen, um

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Zitationshilfe: Tieck, Ludwig: Phantasus. Bd. 1. Berlin, 1812, S. 290. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/tieck_phantasus01_1812/301>, abgerufen am 22.11.2024.