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Tieck, Ludwig: Phantasus. Bd. 1. Berlin, 1812.

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Der Runenberg.
wer keine Blume mehr liebt, dem ist alle Liebe und
Gottesfurcht verloren.

Am folgenden Tage ging der Vater mit dem
Sohne spatzieren, und sagte ihm manches wieder,
was er von Elisabeth gehört hatte; er ermahnte
ihn zur Frömmigkeit, und daß er seinen Geist
heiligen Betrachtungen widmen solle. Christian
sagte: gern, Vater, auch ist mir oft ganz wohl,
und es gelingt mir alles gut; ich kann auf lange
Zeit, auf Jahre, die wahre Gestalt meines In-
nern vergessen, und gleichsam ein fremdes Leben
mit Leichtigkeit führen: dann geht aber plötzlich
wie ein neuer Mond das regierende Gestirn, wel-
ches ich selber bin, in meinem Herzen auf, und
besiegt die fremde Macht. Ich könnte ganz froh
seyn, aber einmal, in einer seltsamen Nacht, ist
mir durch die Hand ein geheimnißvolles Zeichen
tief in mein Gemüth hinein geprägt; oft schläft
und ruht die magische Figur, ich meine sie ist ver-
gangen, aber dann quillt sie wie ein Gift plötzlich
wieder hervor, und wegt sich in allen Linien. Dann
kann ich sie nur denken und fühlen, und alles
umher ist verwandelt, oder vielmehr von dieser Ge-
staltung verschlungen worden. Wie der Wahnsin-
nige beim Anblick des Wassers sich entsetzt, und
das empfangene Gift noch giftiger in ihm wird,
so geschieht es mir bei allen eckigen Figuren, bei
jeder Linie, bei jedem Strahl, alles will dann die
inwohnende Gestalt entbinden und zur Geburt beför-
dern, und mein Geist und Körper fühlt die Angst;
wie sie das Gemüth durch ein Gefühl von außen

Der Runenberg.
wer keine Blume mehr liebt, dem iſt alle Liebe und
Gottesfurcht verloren.

Am folgenden Tage ging der Vater mit dem
Sohne ſpatzieren, und ſagte ihm manches wieder,
was er von Eliſabeth gehoͤrt hatte; er ermahnte
ihn zur Froͤmmigkeit, und daß er ſeinen Geiſt
heiligen Betrachtungen widmen ſolle. Chriſtian
ſagte: gern, Vater, auch iſt mir oft ganz wohl,
und es gelingt mir alles gut; ich kann auf lange
Zeit, auf Jahre, die wahre Geſtalt meines In-
nern vergeſſen, und gleichſam ein fremdes Leben
mit Leichtigkeit fuͤhren: dann geht aber ploͤtzlich
wie ein neuer Mond das regierende Geſtirn, wel-
ches ich ſelber bin, in meinem Herzen auf, und
beſiegt die fremde Macht. Ich koͤnnte ganz froh
ſeyn, aber einmal, in einer ſeltſamen Nacht, iſt
mir durch die Hand ein geheimnißvolles Zeichen
tief in mein Gemuͤth hinein gepraͤgt; oft ſchlaͤft
und ruht die magiſche Figur, ich meine ſie iſt ver-
gangen, aber dann quillt ſie wie ein Gift ploͤtzlich
wieder hervor, und wegt ſich in allen Linien. Dann
kann ich ſie nur denken und fuͤhlen, und alles
umher iſt verwandelt, oder vielmehr von dieſer Ge-
ſtaltung verſchlungen worden. Wie der Wahnſin-
nige beim Anblick des Waſſers ſich entſetzt, und
das empfangene Gift noch giftiger in ihm wird,
ſo geſchieht es mir bei allen eckigen Figuren, bei
jeder Linie, bei jedem Strahl, alles will dann die
inwohnende Geſtalt entbinden und zur Geburt befoͤr-
dern, und mein Geiſt und Koͤrper fuͤhlt die Angſt;
wie ſie das Gemuͤth durch ein Gefuͤhl von außen

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[263/0274] Der Runenberg. wer keine Blume mehr liebt, dem iſt alle Liebe und Gottesfurcht verloren. Am folgenden Tage ging der Vater mit dem Sohne ſpatzieren, und ſagte ihm manches wieder, was er von Eliſabeth gehoͤrt hatte; er ermahnte ihn zur Froͤmmigkeit, und daß er ſeinen Geiſt heiligen Betrachtungen widmen ſolle. Chriſtian ſagte: gern, Vater, auch iſt mir oft ganz wohl, und es gelingt mir alles gut; ich kann auf lange Zeit, auf Jahre, die wahre Geſtalt meines In- nern vergeſſen, und gleichſam ein fremdes Leben mit Leichtigkeit fuͤhren: dann geht aber ploͤtzlich wie ein neuer Mond das regierende Geſtirn, wel- ches ich ſelber bin, in meinem Herzen auf, und beſiegt die fremde Macht. Ich koͤnnte ganz froh ſeyn, aber einmal, in einer ſeltſamen Nacht, iſt mir durch die Hand ein geheimnißvolles Zeichen tief in mein Gemuͤth hinein gepraͤgt; oft ſchlaͤft und ruht die magiſche Figur, ich meine ſie iſt ver- gangen, aber dann quillt ſie wie ein Gift ploͤtzlich wieder hervor, und wegt ſich in allen Linien. Dann kann ich ſie nur denken und fuͤhlen, und alles umher iſt verwandelt, oder vielmehr von dieſer Ge- ſtaltung verſchlungen worden. Wie der Wahnſin- nige beim Anblick des Waſſers ſich entſetzt, und das empfangene Gift noch giftiger in ihm wird, ſo geſchieht es mir bei allen eckigen Figuren, bei jeder Linie, bei jedem Strahl, alles will dann die inwohnende Geſtalt entbinden und zur Geburt befoͤr- dern, und mein Geiſt und Koͤrper fuͤhlt die Angſt; wie ſie das Gemuͤth durch ein Gefuͤhl von außen

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Zitationshilfe: Tieck, Ludwig: Phantasus. Bd. 1. Berlin, 1812, S. 263. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/tieck_phantasus01_1812/274>, abgerufen am 23.11.2024.