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Tieck, Ludwig: Phantasus. Bd. 1. Berlin, 1812.

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Der Runenberg.
beth. Der alte Vater zog zu ihnen, und gab sein
kleines Vermögen in ihre Wirthschaft; sie bildeten
den zufriedensten und einträchtigsten Kreis von Men-
schen. Der Acker gedieh, der Viehstand mehrte
sich, Christians Haus wurde in wenigen Jahren
eins der ansehnlichsten im Orte; auch sah er sich
bald als den Vater von mehreren Kindern.

Fünf Jahre waren auf diese Weise verflossen,
als ein Fremder auf seiner Reise in ihrem Dorfe
einkehrte, und in Christians Hause, weil es die an-
sehnlichste Wohnung war, seinen Aufenthalt nahm.
Er war ein freundlicher, gesprächiger Mann, der
vieles von seinen Reisen erzählte, der mit den Kin-
dern spielte und ihnen Geschenke machte, und dem
in kurzem alle gewogen waren. Es gefiel ihm so
wohl in der Gegend, daß er sich einige Tage hier
aufhalten wollte; aber aus den Tagen wurden Wo-
chen, und endlich Monate. Keiner wunderte sich
über die Verzögerung, denn alle hatten sich schon
daran gewöhnt, ihn mit zur Familie zu zählen.
Christian saß nur oft nachdenklich, denn es kam
ihm vor, als kenne er den Reisenden schon von
ehemals, und doch konnte er sich keiner Gelegen-
heit erinnern, bei welcher er ihn gesehen haben
möchte. Nach dreien Monaten nahm der Fremde
endlich Abschied und sagte: Lieben Freunde, ein
wunderbares Schicksal und seltsame Erwartungen
treiben mich in das nächste Gebirge hinein, ein
zaubervolles Bild, dem ich nicht widerstehen kann,
lockt mich; ich verlasse euch jetzt, und ich weiß
nicht, ob ich wieder zu euch zurück kommen werde;

Der Runenberg.
beth. Der alte Vater zog zu ihnen, und gab ſein
kleines Vermoͤgen in ihre Wirthſchaft; ſie bildeten
den zufriedenſten und eintraͤchtigſten Kreis von Men-
ſchen. Der Acker gedieh, der Viehſtand mehrte
ſich, Chriſtians Haus wurde in wenigen Jahren
eins der anſehnlichſten im Orte; auch ſah er ſich
bald als den Vater von mehreren Kindern.

Fuͤnf Jahre waren auf dieſe Weiſe verfloſſen,
als ein Fremder auf ſeiner Reiſe in ihrem Dorfe
einkehrte, und in Chriſtians Hauſe, weil es die an-
ſehnlichſte Wohnung war, ſeinen Aufenthalt nahm.
Er war ein freundlicher, geſpraͤchiger Mann, der
vieles von ſeinen Reiſen erzaͤhlte, der mit den Kin-
dern ſpielte und ihnen Geſchenke machte, und dem
in kurzem alle gewogen waren. Es gefiel ihm ſo
wohl in der Gegend, daß er ſich einige Tage hier
aufhalten wollte; aber aus den Tagen wurden Wo-
chen, und endlich Monate. Keiner wunderte ſich
uͤber die Verzoͤgerung, denn alle hatten ſich ſchon
daran gewoͤhnt, ihn mit zur Familie zu zaͤhlen.
Chriſtian ſaß nur oft nachdenklich, denn es kam
ihm vor, als kenne er den Reiſenden ſchon von
ehemals, und doch konnte er ſich keiner Gelegen-
heit erinnern, bei welcher er ihn geſehen haben
moͤchte. Nach dreien Monaten nahm der Fremde
endlich Abſchied und ſagte: Lieben Freunde, ein
wunderbares Schickſal und ſeltſame Erwartungen
treiben mich in das naͤchſte Gebirge hinein, ein
zaubervolles Bild, dem ich nicht widerſtehen kann,
lockt mich; ich verlaſſe euch jetzt, und ich weiß
nicht, ob ich wieder zu euch zuruͤck kommen werde;

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[259/0270] Der Runenberg. beth. Der alte Vater zog zu ihnen, und gab ſein kleines Vermoͤgen in ihre Wirthſchaft; ſie bildeten den zufriedenſten und eintraͤchtigſten Kreis von Men- ſchen. Der Acker gedieh, der Viehſtand mehrte ſich, Chriſtians Haus wurde in wenigen Jahren eins der anſehnlichſten im Orte; auch ſah er ſich bald als den Vater von mehreren Kindern. Fuͤnf Jahre waren auf dieſe Weiſe verfloſſen, als ein Fremder auf ſeiner Reiſe in ihrem Dorfe einkehrte, und in Chriſtians Hauſe, weil es die an- ſehnlichſte Wohnung war, ſeinen Aufenthalt nahm. Er war ein freundlicher, geſpraͤchiger Mann, der vieles von ſeinen Reiſen erzaͤhlte, der mit den Kin- dern ſpielte und ihnen Geſchenke machte, und dem in kurzem alle gewogen waren. Es gefiel ihm ſo wohl in der Gegend, daß er ſich einige Tage hier aufhalten wollte; aber aus den Tagen wurden Wo- chen, und endlich Monate. Keiner wunderte ſich uͤber die Verzoͤgerung, denn alle hatten ſich ſchon daran gewoͤhnt, ihn mit zur Familie zu zaͤhlen. Chriſtian ſaß nur oft nachdenklich, denn es kam ihm vor, als kenne er den Reiſenden ſchon von ehemals, und doch konnte er ſich keiner Gelegen- heit erinnern, bei welcher er ihn geſehen haben moͤchte. Nach dreien Monaten nahm der Fremde endlich Abſchied und ſagte: Lieben Freunde, ein wunderbares Schickſal und ſeltſame Erwartungen treiben mich in das naͤchſte Gebirge hinein, ein zaubervolles Bild, dem ich nicht widerſtehen kann, lockt mich; ich verlaſſe euch jetzt, und ich weiß nicht, ob ich wieder zu euch zuruͤck kommen werde;

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Zitationshilfe: Tieck, Ludwig: Phantasus. Bd. 1. Berlin, 1812, S. 259. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/tieck_phantasus01_1812/270>, abgerufen am 22.11.2024.