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Tieck, Ludwig: Phantasus. Bd. 1. Berlin, 1812.

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Einleitung.
so fallen dir wohl gar bei andern farbigen Kin-
dern der Sonne die unbescheidenen Namen ein,
welche die Königinn im Hamlet verschweigt, --

-- crow -- flowers, nettles, daisies, and long
purples,

That liberal shepherds give a grosser name,
But our cold maids do dead men's fingers call
them.

Welche Verse, sagte Lothar, Schlegel nicht
hätte auslassen sollen. Doch dies nur im Vor-
beigehn: fahre fort.

So wunderbar und noch mehr, begann Man-
fred wieder, ist es mit der Liebe. Es giebt eine
solche Heiligkeit dieses Gefühls, eine so wun-
dersame paradisische Unschuld, daß im Unbewußt-
sein, in der Unkenntniß der gegenseitigen Liebe
wohl oft die höchste Seligkeit ruht; der erste
erwachende, sich begegnende Blick hat diesen
Frühling entlaubt, und das erste Wort des Ge-
ständnisses kann der Tod dieser stillen Wonne
sein. Nirgend fühlt der Mensch so sehr, wie er
verlieren muß, um zu gewinnen, wie jedes Glück
ein Geheimniß ist, welches angerührt und aus-
gesprochen seine Blüte abwirft.

Friedrich stand schnell auf und schien von
wunderbaren Gedanken ergriffen, man sah ihn
im Buchengange auf und nieder wandeln, indem
er sich öfter die Augen abtrocknete; Manfred aber
fuhr so fort: wie es wohl Menschen mag gege-
ben haben, die schon mit diesem ersten Seufzer

Einleitung.
ſo fallen dir wohl gar bei andern farbigen Kin-
dern der Sonne die unbeſcheidenen Namen ein,
welche die Koͤniginn im Hamlet verſchweigt, —

— crow — flowers, nettles, daisies, and long
purples,

That liberal shepherds give a grosser name,
But our cold maids do dead men's fingers call
them.

Welche Verſe, ſagte Lothar, Schlegel nicht
haͤtte auslaſſen ſollen. Doch dies nur im Vor-
beigehn: fahre fort.

So wunderbar und noch mehr, begann Man-
fred wieder, iſt es mit der Liebe. Es giebt eine
ſolche Heiligkeit dieſes Gefuͤhls, eine ſo wun-
derſame paradiſiſche Unſchuld, daß im Unbewußt-
ſein, in der Unkenntniß der gegenſeitigen Liebe
wohl oft die hoͤchſte Seligkeit ruht; der erſte
erwachende, ſich begegnende Blick hat dieſen
Fruͤhling entlaubt, und das erſte Wort des Ge-
ſtaͤndniſſes kann der Tod dieſer ſtillen Wonne
ſein. Nirgend fuͤhlt der Menſch ſo ſehr, wie er
verlieren muß, um zu gewinnen, wie jedes Gluͤck
ein Geheimniß iſt, welches angeruͤhrt und aus-
geſprochen ſeine Bluͤte abwirft.

Friedrich ſtand ſchnell auf und ſchien von
wunderbaren Gedanken ergriffen, man ſah ihn
im Buchengange auf und nieder wandeln, indem
er ſich oͤfter die Augen abtrocknete; Manfred aber
fuhr ſo fort: wie es wohl Menſchen mag gege-
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[123/0134] Einleitung. ſo fallen dir wohl gar bei andern farbigen Kin- dern der Sonne die unbeſcheidenen Namen ein, welche die Koͤniginn im Hamlet verſchweigt, — — crow — flowers, nettles, daisies, and long purples, That liberal shepherds give a grosser name, But our cold maids do dead men's fingers call them. Welche Verſe, ſagte Lothar, Schlegel nicht haͤtte auslaſſen ſollen. Doch dies nur im Vor- beigehn: fahre fort. So wunderbar und noch mehr, begann Man- fred wieder, iſt es mit der Liebe. Es giebt eine ſolche Heiligkeit dieſes Gefuͤhls, eine ſo wun- derſame paradiſiſche Unſchuld, daß im Unbewußt- ſein, in der Unkenntniß der gegenſeitigen Liebe wohl oft die hoͤchſte Seligkeit ruht; der erſte erwachende, ſich begegnende Blick hat dieſen Fruͤhling entlaubt, und das erſte Wort des Ge- ſtaͤndniſſes kann der Tod dieſer ſtillen Wonne ſein. Nirgend fuͤhlt der Menſch ſo ſehr, wie er verlieren muß, um zu gewinnen, wie jedes Gluͤck ein Geheimniß iſt, welches angeruͤhrt und aus- geſprochen ſeine Bluͤte abwirft. Friedrich ſtand ſchnell auf und ſchien von wunderbaren Gedanken ergriffen, man ſah ihn im Buchengange auf und nieder wandeln, indem er ſich oͤfter die Augen abtrocknete; Manfred aber fuhr ſo fort: wie es wohl Menſchen mag gege- ben haben, die ſchon mit dieſem erſten Seufzer

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Zitationshilfe: Tieck, Ludwig: Phantasus. Bd. 1. Berlin, 1812, S. 123. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/tieck_phantasus01_1812/134>, abgerufen am 25.11.2024.