Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Tieck, Ludwig: William Lovell. Bd. 3. Berlin u. a., 1796.

Bild:
<< vorherige Seite

mein Zimmer zurück und konnte mich gar nicht
davon überzeugen, daß Willy gestorben sey.

Und was ist denn das Leben, und was ist
es denn mehr, wenn einer von ihnen sich um
einige Tage früher in die Erde legt? Rafft
Krieg und Pest nicht Tausende hinweg? Wer-
den nicht Tausende Schlachtopfer ihrer Leiden-
schaften? Und wenn ich unversehends die Hand
ausstrecke und plötzlich einer zu Boden stürzt,
das sollte mich kümmern und mir Ruhe und
Schlaf rauben? -- Man sollte gar nichts in
der Welt ernsthaft nehmen. Eine schreckliche
Seuche kömmt mir vor, wie ein ungeschickter
Spieler, der unter dem Spiele die Schachfigu-
ren mit dem Ermel durcheinander wirft. Man
kann nur darüber lachen.

Am andern Tage kam Eduard auf mein
Zimmer. O wie verhaßt war mir seine kalte,
philosophische Mine, der mitleidige Blick, mit
dem er mich von oben herab betrachtete! Wie
zerreißen die Menschen unser Herz, die sich für
edel und vollendet halten und nie etwas erfah-
ren und gelitten haben! die in ihrer sichern
Landheimath von den Wogen und Stürmen des
Meers, von Schiffbruch und schrecklichen Ge-

mein Zimmer zuruͤck und konnte mich gar nicht
davon uͤberzeugen, daß Willy geſtorben ſey.

Und was iſt denn das Leben, und was iſt
es denn mehr, wenn einer von ihnen ſich um
einige Tage fruͤher in die Erde legt? Rafft
Krieg und Peſt nicht Tauſende hinweg? Wer-
den nicht Tauſende Schlachtopfer ihrer Leiden-
ſchaften? Und wenn ich unverſehends die Hand
ausſtrecke und ploͤtzlich einer zu Boden ſtuͤrzt,
das ſollte mich kuͤmmern und mir Ruhe und
Schlaf rauben? — Man ſollte gar nichts in
der Welt ernſthaft nehmen. Eine ſchreckliche
Seuche koͤmmt mir vor, wie ein ungeſchickter
Spieler, der unter dem Spiele die Schachfigu-
ren mit dem Ermel durcheinander wirft. Man
kann nur daruͤber lachen.

Am andern Tage kam Eduard auf mein
Zimmer. O wie verhaßt war mir ſeine kalte,
philoſophiſche Mine, der mitleidige Blick, mit
dem er mich von oben herab betrachtete! Wie
zerreißen die Menſchen unſer Herz, die ſich fuͤr
edel und vollendet halten und nie etwas erfah-
ren und gelitten haben! die in ihrer ſichern
Landheimath von den Wogen und Stuͤrmen des
Meers, von Schiffbruch und ſchrecklichen Ge-

<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <div n="2">
          <p><pb facs="#f0094" n="87"/>
mein Zimmer zuru&#x0364;ck und konnte mich gar nicht<lb/>
davon u&#x0364;berzeugen, daß Willy ge&#x017F;torben &#x017F;ey.</p><lb/>
          <p>Und was i&#x017F;t denn das Leben, und was i&#x017F;t<lb/>
es denn mehr, wenn einer von ihnen &#x017F;ich um<lb/>
einige Tage fru&#x0364;her in die Erde legt? Rafft<lb/>
Krieg und Pe&#x017F;t nicht Tau&#x017F;ende hinweg? Wer-<lb/>
den nicht Tau&#x017F;ende Schlachtopfer ihrer Leiden-<lb/>
&#x017F;chaften? Und wenn ich unver&#x017F;ehends die Hand<lb/>
aus&#x017F;trecke und plo&#x0364;tzlich einer zu Boden &#x017F;tu&#x0364;rzt,<lb/>
das &#x017F;ollte mich ku&#x0364;mmern und mir Ruhe und<lb/>
Schlaf rauben? &#x2014; Man &#x017F;ollte gar nichts in<lb/>
der Welt ern&#x017F;thaft nehmen. Eine &#x017F;chreckliche<lb/>
Seuche ko&#x0364;mmt mir vor, wie ein unge&#x017F;chickter<lb/>
Spieler, der unter dem Spiele die Schachfigu-<lb/>
ren mit dem Ermel durcheinander wirft. Man<lb/>
kann nur daru&#x0364;ber lachen.</p><lb/>
          <p>Am andern Tage kam Eduard auf mein<lb/>
Zimmer. O wie verhaßt war mir &#x017F;eine kalte,<lb/>
philo&#x017F;ophi&#x017F;che Mine, der mitleidige Blick, mit<lb/>
dem er mich von oben herab betrachtete! Wie<lb/>
zerreißen die Men&#x017F;chen un&#x017F;er Herz, die &#x017F;ich fu&#x0364;r<lb/>
edel und vollendet halten und nie etwas erfah-<lb/>
ren und gelitten haben! die in ihrer &#x017F;ichern<lb/>
Landheimath von den Wogen und Stu&#x0364;rmen des<lb/>
Meers, von Schiffbruch und &#x017F;chrecklichen Ge-<lb/></p>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[87/0094] mein Zimmer zuruͤck und konnte mich gar nicht davon uͤberzeugen, daß Willy geſtorben ſey. Und was iſt denn das Leben, und was iſt es denn mehr, wenn einer von ihnen ſich um einige Tage fruͤher in die Erde legt? Rafft Krieg und Peſt nicht Tauſende hinweg? Wer- den nicht Tauſende Schlachtopfer ihrer Leiden- ſchaften? Und wenn ich unverſehends die Hand ausſtrecke und ploͤtzlich einer zu Boden ſtuͤrzt, das ſollte mich kuͤmmern und mir Ruhe und Schlaf rauben? — Man ſollte gar nichts in der Welt ernſthaft nehmen. Eine ſchreckliche Seuche koͤmmt mir vor, wie ein ungeſchickter Spieler, der unter dem Spiele die Schachfigu- ren mit dem Ermel durcheinander wirft. Man kann nur daruͤber lachen. Am andern Tage kam Eduard auf mein Zimmer. O wie verhaßt war mir ſeine kalte, philoſophiſche Mine, der mitleidige Blick, mit dem er mich von oben herab betrachtete! Wie zerreißen die Menſchen unſer Herz, die ſich fuͤr edel und vollendet halten und nie etwas erfah- ren und gelitten haben! die in ihrer ſichern Landheimath von den Wogen und Stuͤrmen des Meers, von Schiffbruch und ſchrecklichen Ge-

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
TCF (tokenisiert, serialisiert, lemmatisiert, normalisiert)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien im Double-Keying-Verfahren von Nicht-Muttersprachlern erfasst und in XML/TEI P5 nach DTA-Basisformat kodiert.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/tieck_lovell03_1796
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/tieck_lovell03_1796/94
Zitationshilfe: Tieck, Ludwig: William Lovell. Bd. 3. Berlin u. a., 1796, S. 87. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/tieck_lovell03_1796/94>, abgerufen am 01.05.2024.