mir gleich auch jetzt die Augen voll von großen Thränen sind. -- Kann es denn wirklich Men- schen geben, die nie das Mitleid empfunden haben, die nie Thränen vergossen? -- O denen sey es erlaubt, die Unsterblichkeit ihrer Seele zu bezweifeln, ihnen sey es vergönnt, die Men- schen zu hassen, denn sie müssen es nicht be- greifen können, warum man sie liebt. --
Ich kann nicht dafür, liebe Freundinn, daß ich hier deklamirt habe, denn meine ganze See- le hat sich in mir aufgethan. Sie kennen ja auch diese zarten Regungen des Herzens, Sie werden mich verstehen, und mich keine Schwär- merinn nennen. Mit Männern kann man über- haupt nicht so sprechen, sie sind viel zu sehr in die Geschäfte des Lebens verwickelt, um ihre Gefühle rein und hell in ihrem Busen zu behal- ten, sie handeln und denken und eben dadurch wird alles übrige in ihnen verdunkelt. Nur der Mann von dem ich Ihnen erzählen wollte, und den ich beynahe ganz vergessen hätte, nur er, vielleicht unter seinem Geschlechte der Ein- zige, ist fähig mich ganz zu verstehn, aber er kommt aus der Schule des Unglücks und der
mir gleich auch jetzt die Augen voll von großen Thraͤnen ſind. — Kann es denn wirklich Men- ſchen geben, die nie das Mitleid empfunden haben, die nie Thraͤnen vergoſſen? — O denen ſey es erlaubt, die Unſterblichkeit ihrer Seele zu bezweifeln, ihnen ſey es vergoͤnnt, die Men- ſchen zu haſſen, denn ſie muͤſſen es nicht be- greifen koͤnnen, warum man ſie liebt. —
Ich kann nicht dafuͤr, liebe Freundinn, daß ich hier deklamirt habe, denn meine ganze See- le hat ſich in mir aufgethan. Sie kennen ja auch dieſe zarten Regungen des Herzens, Sie werden mich verſtehen, und mich keine Schwaͤr- merinn nennen. Mit Maͤnnern kann man uͤber- haupt nicht ſo ſprechen, ſie ſind viel zu ſehr in die Geſchaͤfte des Lebens verwickelt, um ihre Gefuͤhle rein und hell in ihrem Buſen zu behal- ten, ſie handeln und denken und eben dadurch wird alles uͤbrige in ihnen verdunkelt. Nur der Mann von dem ich Ihnen erzaͤhlen wollte, und den ich beynahe ganz vergeſſen haͤtte, nur er, vielleicht unter ſeinem Geſchlechte der Ein- zige, iſt faͤhig mich ganz zu verſtehn, aber er kommt aus der Schule des Ungluͤcks und der
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mir gleich auch jetzt die Augen voll von großen
Thraͤnen ſind. — Kann es denn wirklich Men-
ſchen geben, die nie das Mitleid empfunden
haben, die nie Thraͤnen vergoſſen? — O denen
ſey es erlaubt, die Unſterblichkeit ihrer Seele
zu bezweifeln, ihnen ſey es vergoͤnnt, die Men-
ſchen zu haſſen, denn ſie muͤſſen es nicht be-
greifen koͤnnen, warum man ſie liebt. —
Ich kann nicht dafuͤr, liebe Freundinn, daß
ich hier deklamirt habe, denn meine ganze See-
le hat ſich in mir aufgethan. Sie kennen ja
auch dieſe zarten Regungen des Herzens, Sie
werden mich verſtehen, und mich keine Schwaͤr-
merinn nennen. Mit Maͤnnern kann man uͤber-
haupt nicht ſo ſprechen, ſie ſind viel zu ſehr in
die Geſchaͤfte des Lebens verwickelt, um ihre
Gefuͤhle rein und hell in ihrem Buſen zu behal-
ten, ſie handeln und denken und eben dadurch
wird alles uͤbrige in ihnen verdunkelt. Nur
der Mann von dem ich Ihnen erzaͤhlen wollte,
und den ich beynahe ganz vergeſſen haͤtte, nur
er, vielleicht unter ſeinem Geſchlechte der Ein-
zige, iſt faͤhig mich ganz zu verſtehn, aber er
kommt aus der Schule des Ungluͤcks und der
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Tieck, Ludwig: William Lovell. Bd. 3. Berlin u. a., 1796, S. 29. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/tieck_lovell03_1796/36>, abgerufen am 22.11.2024.
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