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Tieck, Ludwig: William Lovell. Bd. 2. Berlin u. a., 1796.

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zu können. Wie den Aufenthalt meiner Kind-
heit, wie meine alten Bilderbücher liebe ich al-
les, was ich einst dachte und empfand, und oft
drängt sich eine Vorstellung aus den frühsten
Knabenjahren auf mich ein, und belehrt mich
über meine jetzigen Ideen. Der Mensch ist so
stolz, sich für vollendet zu halten, wenn er
sein ganzes voriges Leben für verworfen an-
sieht, -- und wie unglückseelig müßte der seyn,
der nicht mit jedem Tage etwas Neues an sich
auszubessern fände, der das schönste und interes-
santeste Kunstwerk gänzlich aufgeben müßte, mit
dem sich die menschliche Seele nur immer be-
schäfftigen kann: die allmählige höchstmögliche
Vollendung ihrer selbst.

Was soll ich Dir sagen, William? Ich fühl'
es, daß alle Worte vergebens sind, wenn sich
der Gegner einer eigensinnigen, rechthaberischen
Sophisterey ergeben hat, die am Ende doch nur
einseitig ist. Diese mit der Leidenschaft verbun-
den ist der Syrenengesang, dem vielleicht kein
Sterblicher widerstehen kann, wenn er nicht wie
der griechische Held von der Unmöglichkeit zu-
rückgehalten wird. Und es kann seyn, daß
auch dann die giftigen Töne durch das ganze

zu koͤnnen. Wie den Aufenthalt meiner Kind-
heit, wie meine alten Bilderbuͤcher liebe ich al-
les, was ich einſt dachte und empfand, und oft
draͤngt ſich eine Vorſtellung aus den fruͤhſten
Knabenjahren auf mich ein, und belehrt mich
uͤber meine jetzigen Ideen. Der Menſch iſt ſo
ſtolz, ſich fuͤr vollendet zu halten, wenn er
ſein ganzes voriges Leben fuͤr verworfen an-
ſieht, — und wie ungluͤckſeelig muͤßte der ſeyn,
der nicht mit jedem Tage etwas Neues an ſich
auszubeſſern faͤnde, der das ſchoͤnſte und intereſ-
ſanteſte Kunſtwerk gaͤnzlich aufgeben muͤßte, mit
dem ſich die menſchliche Seele nur immer be-
ſchaͤfftigen kann: die allmaͤhlige hoͤchſtmoͤgliche
Vollendung ihrer ſelbſt.

Was ſoll ich Dir ſagen, William? Ich fuͤhl’
es, daß alle Worte vergebens ſind, wenn ſich
der Gegner einer eigenſinnigen, rechthaberiſchen
Sophiſterey ergeben hat, die am Ende doch nur
einſeitig iſt. Dieſe mit der Leidenſchaft verbun-
den iſt der Syrenengeſang, dem vielleicht kein
Sterblicher widerſtehen kann, wenn er nicht wie
der griechiſche Held von der Unmoͤglichkeit zu-
ruͤckgehalten wird. Und es kann ſeyn, daß
auch dann die giftigen Toͤne durch das ganze

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[90/0096] zu koͤnnen. Wie den Aufenthalt meiner Kind- heit, wie meine alten Bilderbuͤcher liebe ich al- les, was ich einſt dachte und empfand, und oft draͤngt ſich eine Vorſtellung aus den fruͤhſten Knabenjahren auf mich ein, und belehrt mich uͤber meine jetzigen Ideen. Der Menſch iſt ſo ſtolz, ſich fuͤr vollendet zu halten, wenn er ſein ganzes voriges Leben fuͤr verworfen an- ſieht, — und wie ungluͤckſeelig muͤßte der ſeyn, der nicht mit jedem Tage etwas Neues an ſich auszubeſſern faͤnde, der das ſchoͤnſte und intereſ- ſanteſte Kunſtwerk gaͤnzlich aufgeben muͤßte, mit dem ſich die menſchliche Seele nur immer be- ſchaͤfftigen kann: die allmaͤhlige hoͤchſtmoͤgliche Vollendung ihrer ſelbſt. Was ſoll ich Dir ſagen, William? Ich fuͤhl’ es, daß alle Worte vergebens ſind, wenn ſich der Gegner einer eigenſinnigen, rechthaberiſchen Sophiſterey ergeben hat, die am Ende doch nur einſeitig iſt. Dieſe mit der Leidenſchaft verbun- den iſt der Syrenengeſang, dem vielleicht kein Sterblicher widerſtehen kann, wenn er nicht wie der griechiſche Held von der Unmoͤglichkeit zu- ruͤckgehalten wird. Und es kann ſeyn, daß auch dann die giftigen Toͤne durch das ganze

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Zitationshilfe: Tieck, Ludwig: William Lovell. Bd. 2. Berlin u. a., 1796, S. 90. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/tieck_lovell02_1796/96>, abgerufen am 21.11.2024.