Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Tieck, Ludwig: William Lovell. Bd. 2. Berlin u. a., 1796.

Bild:
<< vorherige Seite

vorstellen, welchen seltsamen Eindruck Ihre
Briefe damals auf mich machen mußten, in
denen Sie immer mit so vielem Eifer von Ro-
salinen sprachen. An einem schönen Abende
schweiften wir vor den Thoren umher, unsre
Gespräche wurden immer ernsthafter und ich
vergaß es darüber ganz, zur engen unange-
nehmen Stadt zurückzukehren. Es war indeß
dunkle Nacht geworden und wir trennten uns.
Alle meine Begriffe waren verwirrt, die Fin-
sterniß ward noch dichter und ich näherte mich,
wie es schien, immer noch nicht der Stadt.
Ich versuchte einen neuen Weg, weil ich glaub-
te, ich habe mich verirrt, und so ward
ich immer ungewisser. Die Einsamkeit und die
Todtenstille umher, erregte mir eine gewisse
Bangigkeit; ich strengte mein Auge noch mehr
an, um ein Licht von der Stadt her zu ent-
decken, aber vergebens. Endlich bemerkt' ich,
daß ich einen Hügel hinanstiege und nach eini-
ger Zeit befand mich oben, neben der Kirche
des heiligen Georgs. Der Wind zitterte in den
Fenstern und pfiff durch die gegenüberliegenden
Ruinen, ich glaubte in der Kirche gehn zu hö-
ren und ich irrte mich nicht; mit hallenden

vorſtellen, welchen ſeltſamen Eindruck Ihre
Briefe damals auf mich machen mußten, in
denen Sie immer mit ſo vielem Eifer von Ro-
ſalinen ſprachen. An einem ſchoͤnen Abende
ſchweiften wir vor den Thoren umher, unſre
Geſpraͤche wurden immer ernſthafter und ich
vergaß es daruͤber ganz, zur engen unange-
nehmen Stadt zuruͤckzukehren. Es war indeß
dunkle Nacht geworden und wir trennten uns.
Alle meine Begriffe waren verwirrt, die Fin-
ſterniß ward noch dichter und ich naͤherte mich,
wie es ſchien, immer noch nicht der Stadt.
Ich verſuchte einen neuen Weg, weil ich glaub-
te, ich habe mich verirrt, und ſo ward
ich immer ungewiſſer. Die Einſamkeit und die
Todtenſtille umher, erregte mir eine gewiſſe
Bangigkeit; ich ſtrengte mein Auge noch mehr
an, um ein Licht von der Stadt her zu ent-
decken, aber vergebens. Endlich bemerkt’ ich,
daß ich einen Huͤgel hinanſtiege und nach eini-
ger Zeit befand mich oben, neben der Kirche
des heiligen Georgs. Der Wind zitterte in den
Fenſtern und pfiff durch die gegenuͤberliegenden
Ruinen, ich glaubte in der Kirche gehn zu hoͤ-
ren und ich irrte mich nicht; mit hallenden

<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <div n="2">
          <p><pb facs="#f0322" n="316"/>
vor&#x017F;tellen, welchen &#x017F;elt&#x017F;amen Eindruck Ihre<lb/>
Briefe damals auf mich machen mußten, in<lb/>
denen Sie immer mit &#x017F;o vielem Eifer von Ro-<lb/>
&#x017F;alinen &#x017F;prachen. An einem &#x017F;cho&#x0364;nen Abende<lb/>
&#x017F;chweiften wir vor den Thoren umher, un&#x017F;re<lb/>
Ge&#x017F;pra&#x0364;che wurden immer ern&#x017F;thafter und ich<lb/>
vergaß es daru&#x0364;ber ganz, zur engen unange-<lb/>
nehmen Stadt zuru&#x0364;ckzukehren. Es war indeß<lb/>
dunkle Nacht geworden und wir trennten uns.<lb/>
Alle meine Begriffe waren verwirrt, die Fin-<lb/>
&#x017F;terniß ward noch dichter und ich na&#x0364;herte mich,<lb/>
wie es &#x017F;chien, immer noch nicht der Stadt.<lb/>
Ich ver&#x017F;uchte einen neuen Weg, weil ich glaub-<lb/>
te, ich habe mich verirrt, und &#x017F;o ward<lb/>
ich immer ungewi&#x017F;&#x017F;er. Die Ein&#x017F;amkeit und die<lb/>
Todten&#x017F;tille umher, erregte mir eine gewi&#x017F;&#x017F;e<lb/>
Bangigkeit; ich &#x017F;trengte mein Auge noch mehr<lb/>
an, um ein Licht von der Stadt her zu ent-<lb/>
decken, aber vergebens. Endlich bemerkt&#x2019; ich,<lb/>
daß ich einen Hu&#x0364;gel hinan&#x017F;tiege und nach eini-<lb/>
ger Zeit befand mich oben, neben der Kirche<lb/>
des heiligen Georgs. Der Wind zitterte in den<lb/>
Fen&#x017F;tern und pfiff durch die gegenu&#x0364;berliegenden<lb/>
Ruinen, ich glaubte in der Kirche gehn zu ho&#x0364;-<lb/>
ren und ich irrte mich nicht; mit hallenden<lb/></p>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[316/0322] vorſtellen, welchen ſeltſamen Eindruck Ihre Briefe damals auf mich machen mußten, in denen Sie immer mit ſo vielem Eifer von Ro- ſalinen ſprachen. An einem ſchoͤnen Abende ſchweiften wir vor den Thoren umher, unſre Geſpraͤche wurden immer ernſthafter und ich vergaß es daruͤber ganz, zur engen unange- nehmen Stadt zuruͤckzukehren. Es war indeß dunkle Nacht geworden und wir trennten uns. Alle meine Begriffe waren verwirrt, die Fin- ſterniß ward noch dichter und ich naͤherte mich, wie es ſchien, immer noch nicht der Stadt. Ich verſuchte einen neuen Weg, weil ich glaub- te, ich habe mich verirrt, und ſo ward ich immer ungewiſſer. Die Einſamkeit und die Todtenſtille umher, erregte mir eine gewiſſe Bangigkeit; ich ſtrengte mein Auge noch mehr an, um ein Licht von der Stadt her zu ent- decken, aber vergebens. Endlich bemerkt’ ich, daß ich einen Huͤgel hinanſtiege und nach eini- ger Zeit befand mich oben, neben der Kirche des heiligen Georgs. Der Wind zitterte in den Fenſtern und pfiff durch die gegenuͤberliegenden Ruinen, ich glaubte in der Kirche gehn zu hoͤ- ren und ich irrte mich nicht; mit hallenden

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien im Double-Keying-Verfahren von Nicht-Muttersprachlern erfasst und in XML/TEI P5 nach DTA-Basisformat kodiert.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/tieck_lovell02_1796
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/tieck_lovell02_1796/322
Zitationshilfe: Tieck, Ludwig: William Lovell. Bd. 2. Berlin u. a., 1796, S. 316. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/tieck_lovell02_1796/322>, abgerufen am 25.11.2024.