in jedem dunklern Gange, in jeder neuen Krüm- mung ein seltsames und grauenvolles Unding er- warten, wir haben nicht Zeit zu überlegen, nicht Zeit, vor uns zu sehn, nicht Athem, um zu klagen, -- bis wir niederstürzen, und alle Furchtbarkeiten zugleich über uns herfallen, und das ereilte Wild zerfleischen. Bis man erwacht, heißen unsre Phantasien Träume, bis dahin un- ser Daseyn Leben.
Ich trat ans Fenster. Ein kleiner Rasen- platz und Rosalinens Hütte gerade vor mir; ich sah in dem kleinen Garten deutlich die wanken- den Malven stehn, und der Mond stieg jetzt dunkelroth herauf, und sah zuerst in ihr Fenster hinein, und fand sie nicht. -- Der Alte muß mich hier oft gesehn haben, wie ein Geist hat er mich umgeben, ich schämte mich nicht vor ihm, sondern sah ihm nur um so unbefangener ins Auge. Dann flog ich mit meinen Gedan- ken zu Rosalinen hinüber, und ich sah sie sitzen, und stumm und zwecklos in die Saiten der Laute schlagen, ich tröstete sie über ihren Tod, und sah ein bitteres Lächeln auf ihrem Gesichte; dann hört' ich mich von meinem Vater rufen, mit denselben Tönen, mit denen er mich in der
in jedem dunklern Gange, in jeder neuen Kruͤm- mung ein ſeltſames und grauenvolles Unding er- warten, wir haben nicht Zeit zu uͤberlegen, nicht Zeit, vor uns zu ſehn, nicht Athem, um zu klagen, — bis wir niederſtuͤrzen, und alle Furchtbarkeiten zugleich uͤber uns herfallen, und das ereilte Wild zerfleiſchen. Bis man erwacht, heißen unſre Phantaſien Traͤume, bis dahin un- ſer Daſeyn Leben.
Ich trat ans Fenſter. Ein kleiner Raſen- platz und Roſalinens Huͤtte gerade vor mir; ich ſah in dem kleinen Garten deutlich die wanken- den Malven ſtehn, und der Mond ſtieg jetzt dunkelroth herauf, und ſah zuerſt in ihr Fenſter hinein, und fand ſie nicht. — Der Alte muß mich hier oft geſehn haben, wie ein Geiſt hat er mich umgeben, ich ſchaͤmte mich nicht vor ihm, ſondern ſah ihm nur um ſo unbefangener ins Auge. Dann flog ich mit meinen Gedan- ken zu Roſalinen hinuͤber, und ich ſah ſie ſitzen, und ſtumm und zwecklos in die Saiten der Laute ſchlagen, ich troͤſtete ſie uͤber ihren Tod, und ſah ein bitteres Laͤcheln auf ihrem Geſichte; dann hoͤrt’ ich mich von meinem Vater rufen, mit denſelben Toͤnen, mit denen er mich in der
<TEI><text><body><divn="1"><divn="2"><p><pbfacs="#f0301"n="295"/>
in jedem dunklern Gange, in jeder neuen Kruͤm-<lb/>
mung ein ſeltſames und grauenvolles Unding er-<lb/>
warten, wir haben nicht Zeit zu uͤberlegen,<lb/>
nicht Zeit, vor uns zu ſehn, nicht Athem, um<lb/>
zu klagen, — bis wir niederſtuͤrzen, und alle<lb/>
Furchtbarkeiten zugleich uͤber uns herfallen, und<lb/>
das ereilte Wild zerfleiſchen. Bis man erwacht,<lb/>
heißen unſre Phantaſien Traͤume, bis dahin un-<lb/>ſer Daſeyn Leben.</p><lb/><p>Ich trat ans Fenſter. Ein kleiner Raſen-<lb/>
platz und Roſalinens Huͤtte gerade vor mir; ich<lb/>ſah in dem kleinen Garten deutlich die wanken-<lb/>
den Malven ſtehn, und der Mond ſtieg jetzt<lb/>
dunkelroth herauf, und ſah zuerſt in ihr Fenſter<lb/>
hinein, und fand ſie nicht. — Der Alte muß<lb/>
mich hier oft geſehn haben, wie ein Geiſt hat<lb/>
er mich umgeben, ich ſchaͤmte mich nicht vor<lb/>
ihm, ſondern ſah ihm nur um ſo unbefangener<lb/>
ins Auge. Dann flog ich mit meinen Gedan-<lb/>
ken zu Roſalinen hinuͤber, und ich ſah ſie ſitzen,<lb/>
und ſtumm und zwecklos in die Saiten der Laute<lb/>ſchlagen, ich troͤſtete ſie uͤber ihren Tod, und<lb/>ſah ein bitteres Laͤcheln auf ihrem Geſichte;<lb/>
dann hoͤrt’ ich mich von meinem Vater rufen,<lb/>
mit denſelben Toͤnen, mit denen er mich in der<lb/></p></div></div></body></text></TEI>
[295/0301]
in jedem dunklern Gange, in jeder neuen Kruͤm-
mung ein ſeltſames und grauenvolles Unding er-
warten, wir haben nicht Zeit zu uͤberlegen,
nicht Zeit, vor uns zu ſehn, nicht Athem, um
zu klagen, — bis wir niederſtuͤrzen, und alle
Furchtbarkeiten zugleich uͤber uns herfallen, und
das ereilte Wild zerfleiſchen. Bis man erwacht,
heißen unſre Phantaſien Traͤume, bis dahin un-
ſer Daſeyn Leben.
Ich trat ans Fenſter. Ein kleiner Raſen-
platz und Roſalinens Huͤtte gerade vor mir; ich
ſah in dem kleinen Garten deutlich die wanken-
den Malven ſtehn, und der Mond ſtieg jetzt
dunkelroth herauf, und ſah zuerſt in ihr Fenſter
hinein, und fand ſie nicht. — Der Alte muß
mich hier oft geſehn haben, wie ein Geiſt hat
er mich umgeben, ich ſchaͤmte mich nicht vor
ihm, ſondern ſah ihm nur um ſo unbefangener
ins Auge. Dann flog ich mit meinen Gedan-
ken zu Roſalinen hinuͤber, und ich ſah ſie ſitzen,
und ſtumm und zwecklos in die Saiten der Laute
ſchlagen, ich troͤſtete ſie uͤber ihren Tod, und
ſah ein bitteres Laͤcheln auf ihrem Geſichte;
dann hoͤrt’ ich mich von meinem Vater rufen,
mit denſelben Toͤnen, mit denen er mich in der
Informationen zur CAB-Ansicht
Diese Ansicht bietet Ihnen die Darstellung des Textes in normalisierter Orthographie.
Diese Textvariante wird vollautomatisch erstellt und kann aufgrund dessen auch Fehler enthalten.
Alle veränderten Wortformen sind grau hinterlegt. Als fremdsprachliches Material erkannte
Textteile sind ausgegraut dargestellt.
Tieck, Ludwig: William Lovell. Bd. 2. Berlin u. a., 1796, S. 295. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/tieck_lovell02_1796/301>, abgerufen am 25.11.2024.
Alle Inhalte dieser Seite unterstehen, soweit nicht anders gekennzeichnet, einer
Creative-Commons-Lizenz.
Die Rechte an den angezeigten Bilddigitalisaten, soweit nicht anders gekennzeichnet, liegen bei den besitzenden Bibliotheken.
Weitere Informationen finden Sie in den DTA-Nutzungsbedingungen.
Insbesondere im Hinblick auf die §§ 86a StGB und 130 StGB wird festgestellt, dass die auf
diesen Seiten abgebildeten Inhalte weder in irgendeiner Form propagandistischen Zwecken
dienen, oder Werbung für verbotene Organisationen oder Vereinigungen darstellen, oder
nationalsozialistische Verbrechen leugnen oder verharmlosen, noch zum Zwecke der
Herabwürdigung der Menschenwürde gezeigt werden.
Die auf diesen Seiten abgebildeten Inhalte (in Wort und Bild) dienen im Sinne des
§ 86 StGB Abs. 3 ausschließlich historischen, sozial- oder kulturwissenschaftlichen
Forschungszwecken. Ihre Veröffentlichung erfolgt in der Absicht, Wissen zur Anregung
der intellektuellen Selbstständigkeit und Verantwortungsbereitschaft des Staatsbürgers zu
vermitteln und damit der Förderung seiner Mündigkeit zu dienen.
Zitierempfehlung: Deutsches Textarchiv. Grundlage für ein Referenzkorpus der neuhochdeutschen Sprache. Herausgegeben von der Berlin-Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften, Berlin 2024. URL: https://www.deutschestextarchiv.de/.