ich an die Aussichten des Lebens dachte, wie sie damals vor mir lagen, -- o Rosa, wie eine unter- gehende Sonne beschien mich der blasse Strahl, ohne mich zu erwärmen; es fiel eine seltsame, räthselhafte Ahndung meine schwankende Seele an, -- ich kann Ihnen meinen Zustand unmög- lich deutlich machen. -- Mir war's, als käme es wie eine göttliche Offenbarung auf mich her- ab, es gingen die verschlossenen Thüren in mei- nem Innersten auf, und ich schaute in die selt- same verworrene Werkstatt meiner Seele. Wie wüst und ungeordnet lag alles umher, was ich so schön und zierlich aufgepackt glaubte, in al- len Gedanken fand ich ungeheure Klüfte, die ich aus trunknem Leichtsinn vorher übersehen hatte, das ganze Gebäude meiner Ideen fiel zusammen, und ich erschrak vor der leeren Ebene, die sich durch mein Gehirn ausstreckte. Nun stiegen al- le Erinnerungen noch schöner und goldener in mir auf, die Vergangenheit stand noch frischer und lebendiger vor mir, und ich sah nur, wie viel ich verloren hatte und konnte keinen Ge- winn entdecken.
Ist in jeglichem Lebenslaufe nicht vielleicht eine schöne blumenreiche Stelle, aus der sich ein Bach
ich an die Ausſichten des Lebens dachte, wie ſie damals vor mir lagen, — o Roſa, wie eine unter- gehende Sonne beſchien mich der blaſſe Strahl, ohne mich zu erwaͤrmen; es fiel eine ſeltſame, raͤthſelhafte Ahndung meine ſchwankende Seele an, — ich kann Ihnen meinen Zuſtand unmoͤg- lich deutlich machen. — Mir war’s, als kaͤme es wie eine goͤttliche Offenbarung auf mich her- ab, es gingen die verſchloſſenen Thuͤren in mei- nem Innerſten auf, und ich ſchaute in die ſelt- ſame verworrene Werkſtatt meiner Seele. Wie wuͤſt und ungeordnet lag alles umher, was ich ſo ſchoͤn und zierlich aufgepackt glaubte, in al- len Gedanken fand ich ungeheure Kluͤfte, die ich aus trunknem Leichtſinn vorher uͤberſehen hatte, das ganze Gebaͤude meiner Ideen fiel zuſammen, und ich erſchrak vor der leeren Ebene, die ſich durch mein Gehirn ausſtreckte. Nun ſtiegen al- le Erinnerungen noch ſchoͤner und goldener in mir auf, die Vergangenheit ſtand noch friſcher und lebendiger vor mir, und ich ſah nur, wie viel ich verloren hatte und konnte keinen Ge- winn entdecken.
Iſt in jeglichem Lebenslaufe nicht vielleicht eine ſchoͤne blumenreiche Stelle, aus der ſich ein Bach
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ich an die Ausſichten des Lebens dachte, wie ſie
damals vor mir lagen, — o Roſa, wie eine unter-
gehende Sonne beſchien mich der blaſſe Strahl,
ohne mich zu erwaͤrmen; es fiel eine ſeltſame,
raͤthſelhafte Ahndung meine ſchwankende Seele
an, — ich kann Ihnen meinen Zuſtand unmoͤg-
lich deutlich machen. — Mir war’s, als kaͤme
es wie eine goͤttliche Offenbarung auf mich her-
ab, es gingen die verſchloſſenen Thuͤren in mei-
nem Innerſten auf, und ich ſchaute in die ſelt-
ſame verworrene Werkſtatt meiner Seele. Wie
wuͤſt und ungeordnet lag alles umher, was ich
ſo ſchoͤn und zierlich aufgepackt glaubte, in al-
len Gedanken fand ich ungeheure Kluͤfte, die ich
aus trunknem Leichtſinn vorher uͤberſehen hatte,
das ganze Gebaͤude meiner Ideen fiel zuſammen,
und ich erſchrak vor der leeren Ebene, die ſich
durch mein Gehirn ausſtreckte. Nun ſtiegen al-
le Erinnerungen noch ſchoͤner und goldener in
mir auf, die Vergangenheit ſtand noch friſcher
und lebendiger vor mir, und ich ſah nur, wie
viel ich verloren hatte und konnte keinen Ge-
winn entdecken.
Iſt in jeglichem Lebenslaufe nicht vielleicht eine
ſchoͤne blumenreiche Stelle, aus der ſich ein Bach
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Tieck, Ludwig: William Lovell. Bd. 2. Berlin u. a., 1796, S. 23. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/tieck_lovell02_1796/29>, abgerufen am 21.11.2024.
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