trübe und unkenntliche Schatten eines veralte- ten Gemähldes. -- Ich weiß mich kaum noch des gestrigen Tages zu erinnern, in der Zukunft wandelt mein Geist, wie einen Fremden betrach- te ich mich selbst, und wünsche den Augenblick meines Todes.
Nur Dich, William, vermiß ich noch, sonst nichts in der Welt, ich übersehe mein Leben und alle meine Erfahrungen gleichsam in einem Register. Unsre heftigen Begierden, unsre Ent- zückung und Verzweiflung entsteht nur daher, weil wir uns selbst und den kleinen Punkt un- sers Lebens, auf dem wir grade stehen, zu sehr vor Augen haben, über unser kleines Unglück denken wir nicht daran, daß in demselben Mo- mente viele Tausende unendlich elender sind, als wir, daß sich der Nachbar indessen freut, und in dieser Frölichkeit vielleicht schon unbe- merkt die Quelle künftiger Trübsale sprudelt. -- Alles ist mir jetzt gleich, nur nach Dir sehnt sich noch mein schwaches, väterliches Herz. -- Du bist krank, mein Sohn, es leidet keinen Zweifel, sonst würdest Du schon vor mir stehen. --
truͤbe und unkenntliche Schatten eines veralte- ten Gemaͤhldes. — Ich weiß mich kaum noch des geſtrigen Tages zu erinnern, in der Zukunft wandelt mein Geiſt, wie einen Fremden betrach- te ich mich ſelbſt, und wuͤnſche den Augenblick meines Todes.
Nur Dich, William, vermiß ich noch, ſonſt nichts in der Welt, ich uͤberſehe mein Leben und alle meine Erfahrungen gleichſam in einem Regiſter. Unſre heftigen Begierden, unſre Ent- zuͤckung und Verzweiflung entſteht nur daher, weil wir uns ſelbſt und den kleinen Punkt un- ſers Lebens, auf dem wir grade ſtehen, zu ſehr vor Augen haben, uͤber unſer kleines Ungluͤck denken wir nicht daran, daß in demſelben Mo- mente viele Tauſende unendlich elender ſind, als wir, daß ſich der Nachbar indeſſen freut, und in dieſer Froͤlichkeit vielleicht ſchon unbe- merkt die Quelle kuͤnftiger Truͤbſale ſprudelt. — Alles iſt mir jetzt gleich, nur nach Dir ſehnt ſich noch mein ſchwaches, vaͤterliches Herz. — Du biſt krank, mein Sohn, es leidet keinen Zweifel, ſonſt wuͤrdeſt Du ſchon vor mir ſtehen. —
<TEI><text><body><divn="1"><divn="2"><p><pbfacs="#f0238"n="232"/>
truͤbe und unkenntliche Schatten eines veralte-<lb/>
ten Gemaͤhldes. — Ich weiß mich kaum noch<lb/>
des geſtrigen Tages zu erinnern, in der Zukunft<lb/>
wandelt mein Geiſt, wie einen Fremden betrach-<lb/>
te ich mich ſelbſt, und wuͤnſche den Augenblick<lb/>
meines Todes.</p><lb/><milestonerendition="#hr"unit="section"/><p>Nur Dich, William, vermiß ich noch, ſonſt<lb/>
nichts in der Welt, ich uͤberſehe mein Leben<lb/>
und alle meine Erfahrungen gleichſam in einem<lb/>
Regiſter. Unſre heftigen Begierden, unſre Ent-<lb/>
zuͤckung und Verzweiflung entſteht nur daher,<lb/>
weil wir uns ſelbſt und den kleinen Punkt un-<lb/>ſers Lebens, auf dem wir grade ſtehen, zu ſehr<lb/>
vor Augen haben, uͤber unſer kleines Ungluͤck<lb/>
denken wir nicht daran, daß in demſelben Mo-<lb/>
mente viele Tauſende unendlich elender ſind,<lb/>
als wir, daß ſich der Nachbar indeſſen freut,<lb/>
und in dieſer Froͤlichkeit vielleicht ſchon unbe-<lb/>
merkt die Quelle kuͤnftiger Truͤbſale ſprudelt. —<lb/>
Alles iſt mir jetzt gleich, nur nach Dir ſehnt<lb/>ſich noch mein ſchwaches, vaͤterliches Herz. —<lb/>
Du biſt krank, mein Sohn, es leidet keinen<lb/>
Zweifel, ſonſt wuͤrdeſt Du ſchon vor mir ſtehen. —</p><lb/><milestonerendition="#hr"unit="section"/></div></div></body></text></TEI>
[232/0238]
truͤbe und unkenntliche Schatten eines veralte-
ten Gemaͤhldes. — Ich weiß mich kaum noch
des geſtrigen Tages zu erinnern, in der Zukunft
wandelt mein Geiſt, wie einen Fremden betrach-
te ich mich ſelbſt, und wuͤnſche den Augenblick
meines Todes.
Nur Dich, William, vermiß ich noch, ſonſt
nichts in der Welt, ich uͤberſehe mein Leben
und alle meine Erfahrungen gleichſam in einem
Regiſter. Unſre heftigen Begierden, unſre Ent-
zuͤckung und Verzweiflung entſteht nur daher,
weil wir uns ſelbſt und den kleinen Punkt un-
ſers Lebens, auf dem wir grade ſtehen, zu ſehr
vor Augen haben, uͤber unſer kleines Ungluͤck
denken wir nicht daran, daß in demſelben Mo-
mente viele Tauſende unendlich elender ſind,
als wir, daß ſich der Nachbar indeſſen freut,
und in dieſer Froͤlichkeit vielleicht ſchon unbe-
merkt die Quelle kuͤnftiger Truͤbſale ſprudelt. —
Alles iſt mir jetzt gleich, nur nach Dir ſehnt
ſich noch mein ſchwaches, vaͤterliches Herz. —
Du biſt krank, mein Sohn, es leidet keinen
Zweifel, ſonſt wuͤrdeſt Du ſchon vor mir ſtehen. —
Informationen zur CAB-Ansicht
Diese Ansicht bietet Ihnen die Darstellung des Textes in normalisierter Orthographie.
Diese Textvariante wird vollautomatisch erstellt und kann aufgrund dessen auch Fehler enthalten.
Alle veränderten Wortformen sind grau hinterlegt. Als fremdsprachliches Material erkannte
Textteile sind ausgegraut dargestellt.
Tieck, Ludwig: William Lovell. Bd. 2. Berlin u. a., 1796, S. 232. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/tieck_lovell02_1796/238>, abgerufen am 24.11.2024.
Alle Inhalte dieser Seite unterstehen, soweit nicht anders gekennzeichnet, einer
Creative-Commons-Lizenz.
Die Rechte an den angezeigten Bilddigitalisaten, soweit nicht anders gekennzeichnet, liegen bei den besitzenden Bibliotheken.
Weitere Informationen finden Sie in den DTA-Nutzungsbedingungen.
Insbesondere im Hinblick auf die §§ 86a StGB und 130 StGB wird festgestellt, dass die auf
diesen Seiten abgebildeten Inhalte weder in irgendeiner Form propagandistischen Zwecken
dienen, oder Werbung für verbotene Organisationen oder Vereinigungen darstellen, oder
nationalsozialistische Verbrechen leugnen oder verharmlosen, noch zum Zwecke der
Herabwürdigung der Menschenwürde gezeigt werden.
Die auf diesen Seiten abgebildeten Inhalte (in Wort und Bild) dienen im Sinne des
§ 86 StGB Abs. 3 ausschließlich historischen, sozial- oder kulturwissenschaftlichen
Forschungszwecken. Ihre Veröffentlichung erfolgt in der Absicht, Wissen zur Anregung
der intellektuellen Selbstständigkeit und Verantwortungsbereitschaft des Staatsbürgers zu
vermitteln und damit der Förderung seiner Mündigkeit zu dienen.
Zitierempfehlung: Deutsches Textarchiv. Grundlage für ein Referenzkorpus der neuhochdeutschen Sprache. Herausgegeben von der Berlin-Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften, Berlin 2024. URL: https://www.deutschestextarchiv.de/.