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Tieck, Ludwig: William Lovell. Bd. 1. Berlin u. a., 1795.

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So lebt ich manches Jahr hindurch, ohne
daß mein Geist eine andere Wendung nahm; die
fast ununterbrochene Einsamkeit mochte wohl
die vorzüglichste Ursache davon seyn. Als ich
kaum mündig geworden war, starb mein Vater
und ich war mir nun ganz selber überlassen,
mein Schmerz über meines Vaters Verlust war
heftig und anhaltend, aber Burtons Liebe trö-
stete mich. -- Um diese Zeit lernt' ich in der
Nachbarschaft ein Mädchen kennen, die mich an-
fangs interessirte, und nach und nach mein ganzes
Herz gewann, bis ich endlich von ihr bezaubert
die Bedeutung des Wortes Liebe in seinem vol-
lesten Umfange verstand: da ich bis jezt in der
Hitze meiner Freundschaft die Liebe nur für eine
Erfindung der Romandichter gehalten hatte.
Maria Milford war aus der reichsten Fami-
lie in der Nachbarschaft, und obgleich mein
Vermögen selbst sehr ansehnlich war, so war ich
doch zu furchtsam, ihrem rauhen Vater einen
Antrag zu thun; meine Erziehung hatte mir
eine Menschenscheu eingeflößt, die ich nur erst
sehr spät abgelegt habe, ich wollte überdies erst
ihre persönliche Neigung zu gewinnen suchen;
ein Unternehmen, das mir auch in kurzer Zeit

So lebt ich manches Jahr hindurch, ohne
daß mein Geiſt eine andere Wendung nahm; die
faſt ununterbrochene Einſamkeit mochte wohl
die vorzuͤglichſte Urſache davon ſeyn. Als ich
kaum muͤndig geworden war, ſtarb mein Vater
und ich war mir nun ganz ſelber uͤberlaſſen,
mein Schmerz uͤber meines Vaters Verluſt war
heftig und anhaltend, aber Burtons Liebe troͤ-
ſtete mich. — Um dieſe Zeit lernt’ ich in der
Nachbarſchaft ein Maͤdchen kennen, die mich an-
fangs intereſſirte, und nach und nach mein ganzes
Herz gewann, bis ich endlich von ihr bezaubert
die Bedeutung des Wortes Liebe in ſeinem vol-
leſten Umfange verſtand: da ich bis jezt in der
Hitze meiner Freundſchaft die Liebe nur fuͤr eine
Erfindung der Romandichter gehalten hatte.
Maria Milford war aus der reichſten Fami-
lie in der Nachbarſchaft, und obgleich mein
Vermoͤgen ſelbſt ſehr anſehnlich war, ſo war ich
doch zu furchtſam, ihrem rauhen Vater einen
Antrag zu thun; meine Erziehung hatte mir
eine Menſchenſcheu eingefloͤßt, die ich nur erſt
ſehr ſpaͤt abgelegt habe, ich wollte uͤberdies erſt
ihre perſoͤnliche Neigung zu gewinnen ſuchen;
ein Unternehmen, das mir auch in kurzer Zeit

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[249[247]/0257] So lebt ich manches Jahr hindurch, ohne daß mein Geiſt eine andere Wendung nahm; die faſt ununterbrochene Einſamkeit mochte wohl die vorzuͤglichſte Urſache davon ſeyn. Als ich kaum muͤndig geworden war, ſtarb mein Vater und ich war mir nun ganz ſelber uͤberlaſſen, mein Schmerz uͤber meines Vaters Verluſt war heftig und anhaltend, aber Burtons Liebe troͤ- ſtete mich. — Um dieſe Zeit lernt’ ich in der Nachbarſchaft ein Maͤdchen kennen, die mich an- fangs intereſſirte, und nach und nach mein ganzes Herz gewann, bis ich endlich von ihr bezaubert die Bedeutung des Wortes Liebe in ſeinem vol- leſten Umfange verſtand: da ich bis jezt in der Hitze meiner Freundſchaft die Liebe nur fuͤr eine Erfindung der Romandichter gehalten hatte. Maria Milford war aus der reichſten Fami- lie in der Nachbarſchaft, und obgleich mein Vermoͤgen ſelbſt ſehr anſehnlich war, ſo war ich doch zu furchtſam, ihrem rauhen Vater einen Antrag zu thun; meine Erziehung hatte mir eine Menſchenſcheu eingefloͤßt, die ich nur erſt ſehr ſpaͤt abgelegt habe, ich wollte uͤberdies erſt ihre perſoͤnliche Neigung zu gewinnen ſuchen; ein Unternehmen, das mir auch in kurzer Zeit

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Zitationshilfe: Tieck, Ludwig: William Lovell. Bd. 1. Berlin u. a., 1795, S. 249[247]. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/tieck_lovell01_1795/257>, abgerufen am 25.11.2024.