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Thieß, Johann Otto: Unser Herr! in den lezten Tagen seines ersten und in den ersten Tagen seines andern Menschenlebens. Neue Aufl. Hannover, 1794.

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gefangen in des Hohenpriesters Pallast.
theilte, aber in ihre Herzen siel er nicht, oder
er feuerte sie nur zu noch mehr Bosheit an;
ihre Schande ward ihnen auf einen Augenblik
helle, und ihre Galle noch schwärzer.

Kaiphas und Jesus, so bei einander! Wahr-
lich, das gäbe ein Nachspiel zu dem Auftritte ab,
den Judas darstellte, wie er Jesum mit einem
Kusse verrieth, wenn nicht Judas seiner Rolle
noch eine trefliche Wendung gegeben hätte, eh
er sie auf die elendeste Art ausspielte. Er spielte
sie aus, und der Vorhang war noch nicht gefallen,
auch der Vorhang vor dem Allerheiligsten im
Tempel hatte noch nicht gebebt, war noch nicht
zerrissen. Dafür hängt denn nun ein Vorhang
vor dem Schiksal des Verräthers, der an seiner
eignen Sele zum Verräther wurde. Aber ohne
alle Veränderung sizt Kaiphas da, der ungerech-
teste Richter auf dem ungerechtesten Thron. Doch
er steht auf, aber in seinen Mienen zeigt sich
keine andre, als schändliche Veränderung.
Alles ist an ihm in Bewegung, aber nur in Be-
wegung der Wuth, der rasenden Mordlust.

Was wars, was diesen Priester in so un-
menschliche Leidenschaft sezte? vielleicht das
Schweigen Jesu? Wars dies, was, wie ich
immer glaube, dazu beitrug, seine Wuth zu ver-
mehren: so ist das aber auch zugleich Beweis,
daß seine Leidenschaft so böse, als seine Bosheit lei-
denschaftlich war. Wer durch den Anblik eines
Menschen, der fortwährend schweigt, wo andre
mit der boshaftesten Kälte oder Hizze wider ihn
reden, und sonach nicht nur die Zuverläßigkeit

ihrer

gefangen in des Hohenprieſters Pallaſt.
theilte, aber in ihre Herzen ſiel er nicht, oder
er feuerte ſie nur zu noch mehr Bosheit an;
ihre Schande ward ihnen auf einen Augenblik
helle, und ihre Galle noch ſchwärzer.

Kaiphas und Jeſus, ſo bei einander! Wahr-
lich, das gäbe ein Nachſpiel zu dem Auftritte ab,
den Judas darſtellte, wie er Jeſum mit einem
Kuſſe verrieth, wenn nicht Judas ſeiner Rolle
noch eine trefliche Wendung gegeben hätte, eh
er ſie auf die elendeſte Art ausſpielte. Er ſpielte
ſie aus, und der Vorhang war noch nicht gefallen,
auch der Vorhang vor dem Allerheiligſten im
Tempel hatte noch nicht gebebt, war noch nicht
zerriſſen. Dafür hängt denn nun ein Vorhang
vor dem Schikſal des Verräthers, der an ſeiner
eignen Sele zum Verräther wurde. Aber ohne
alle Veränderung ſizt Kaiphas da, der ungerech-
teſte Richter auf dem ungerechteſten Thron. Doch
er ſteht auf, aber in ſeinen Mienen zeigt ſich
keine andre, als ſchändliche Veränderung.
Alles iſt an ihm in Bewegung, aber nur in Be-
wegung der Wuth, der raſenden Mordluſt.

Was wars, was dieſen Prieſter in ſo un-
menſchliche Leidenſchaft ſezte? vielleicht das
Schweigen Jeſu? Wars dies, was, wie ich
immer glaube, dazu beitrug, ſeine Wuth zu ver-
mehren: ſo iſt das aber auch zugleich Beweis,
daß ſeine Leidenſchaft ſo böſe, als ſeine Bosheit lei-
denſchaftlich war. Wer durch den Anblik eines
Menſchen, der fortwährend ſchweigt, wo andre
mit der boshafteſten Kälte oder Hizze wider ihn
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[77/0091] gefangen in des Hohenprieſters Pallaſt. theilte, aber in ihre Herzen ſiel er nicht, oder er feuerte ſie nur zu noch mehr Bosheit an; ihre Schande ward ihnen auf einen Augenblik helle, und ihre Galle noch ſchwärzer. Kaiphas und Jeſus, ſo bei einander! Wahr- lich, das gäbe ein Nachſpiel zu dem Auftritte ab, den Judas darſtellte, wie er Jeſum mit einem Kuſſe verrieth, wenn nicht Judas ſeiner Rolle noch eine trefliche Wendung gegeben hätte, eh er ſie auf die elendeſte Art ausſpielte. Er ſpielte ſie aus, und der Vorhang war noch nicht gefallen, auch der Vorhang vor dem Allerheiligſten im Tempel hatte noch nicht gebebt, war noch nicht zerriſſen. Dafür hängt denn nun ein Vorhang vor dem Schikſal des Verräthers, der an ſeiner eignen Sele zum Verräther wurde. Aber ohne alle Veränderung ſizt Kaiphas da, der ungerech- teſte Richter auf dem ungerechteſten Thron. Doch er ſteht auf, aber in ſeinen Mienen zeigt ſich keine andre, als ſchändliche Veränderung. Alles iſt an ihm in Bewegung, aber nur in Be- wegung der Wuth, der raſenden Mordluſt. Was wars, was dieſen Prieſter in ſo un- menſchliche Leidenſchaft ſezte? vielleicht das Schweigen Jeſu? Wars dies, was, wie ich immer glaube, dazu beitrug, ſeine Wuth zu ver- mehren: ſo iſt das aber auch zugleich Beweis, daß ſeine Leidenſchaft ſo böſe, als ſeine Bosheit lei- denſchaftlich war. Wer durch den Anblik eines Menſchen, der fortwährend ſchweigt, wo andre mit der boshafteſten Kälte oder Hizze wider ihn reden, und ſonach nicht nur die Zuverläßigkeit ihrer

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Zitationshilfe: Thieß, Johann Otto: Unser Herr! in den lezten Tagen seines ersten und in den ersten Tagen seines andern Menschenlebens. Neue Aufl. Hannover, 1794, S. 77. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/thiess_andachtsbuch_1794/91>, abgerufen am 22.11.2024.