Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Thieß, Johann Otto: Unser Herr! in den lezten Tagen seines ersten und in den ersten Tagen seines andern Menschenlebens. Neue Aufl. Hannover, 1794.

Bild:
<< vorherige Seite
Unser Herr in der lezten Abendgesellschaft

Also gegen Abend kam Jesus in dem grossen
gepflasterten Saal mit seinen Jüngern zusammen,
den er gemiethet hatte, um mit ihnen in Jeru-
salem das Osterlamm zu essen. Dies mußte bei
den Juden zwischen Abends geschehen, zur Erin-
nerung an iene Blutnacht, in welcher ihre Vor-
fahren aus Aegypten geflüchtet waren. Bis in
die Nacht daurte nun wohl diese Zusammenkunft,
und für die gegenwärtige Absicht Jesu war das
sehr dienlich. Eine nächtliche Zusammenkunft
hat schon an sich einen gewissen verstohlnen Reiz;
ganz anders würkt da das Gespräch, wie bei dem
Licht und Geräusch des Tags. Das Gemüth
ist schon zur Vertraulichkeit gestimmt, durch das
Ungewohnte, das Feierliche der Nacht. In der
schlummernden Schöpfung fast allein noch wach zu
sein, bei dem gänzlichen Schweigen umher zu reden,
und so leise zu treten, als wollte man Nieman-
den aus seinem Schlafe stören, als wollte man
auch von Niemanden in seinem Unternehmen izt
gestört oder bemerkt sein, das ist schon etwas
Eignes, was leicht ganz eigne Betrachtungen
und Empfindungen in der Seele des Menschen
hervorruft. Für die Jünger Jesu war diese
Nacht, gewis schon bei ihrem Anbruch, eine sehr
feierliche Nacht, und sie ward, vor ihrem Ablauf,
für sie zur merkwürdigsten Nacht, heller und
dunkler, wie irgend ein Tag ihres Lebens. Es
war vielleicht eine sanfte Frühlings[-], es war
schon für sie als Juden, es ward noch mehr
für sie als Jünger Christi eine heilige Nacht.
Mit welchem Herzklopfen gingen sie wohl in sie
hinein, sie, die in so wenig Tagen so viel Uner-

war-
Unſer Herr in der lezten Abendgeſellſchaft

Alſo gegen Abend kam Jeſus in dem groſſen
gepflaſterten Saal mit ſeinen Jüngern zuſammen,
den er gemiethet hatte, um mit ihnen in Jeru-
ſalem das Oſterlamm zu eſſen. Dies mußte bei
den Juden zwiſchen Abends geſchehen, zur Erin-
nerung an iene Blutnacht, in welcher ihre Vor-
fahren aus Aegypten geflüchtet waren. Bis in
die Nacht daurte nun wohl dieſe Zuſammenkunft,
und für die gegenwärtige Abſicht Jeſu war das
ſehr dienlich. Eine nächtliche Zuſammenkunft
hat ſchon an ſich einen gewiſſen verſtohlnen Reiz;
ganz anders würkt da das Geſpräch, wie bei dem
Licht und Geräuſch des Tags. Das Gemüth
iſt ſchon zur Vertraulichkeit geſtimmt, durch das
Ungewohnte, das Feierliche der Nacht. In der
ſchlummernden Schöpfung faſt allein noch wach zu
ſein, bei dem gänzlichen Schweigen umher zu reden,
und ſo leiſe zu treten, als wollte man Nieman-
den aus ſeinem Schlafe ſtören, als wollte man
auch von Niemanden in ſeinem Unternehmen izt
geſtört oder bemerkt ſein, das iſt ſchon etwas
Eignes, was leicht ganz eigne Betrachtungen
und Empfindungen in der Seele des Menſchen
hervorruft. Für die Jünger Jeſu war dieſe
Nacht, gewis ſchon bei ihrem Anbruch, eine ſehr
feierliche Nacht, und ſie ward, vor ihrem Ablauf,
für ſie zur merkwürdigſten Nacht, heller und
dunkler, wie irgend ein Tag ihres Lebens. Es
war vielleicht eine ſanfte Frühlings[-], es war
ſchon für ſie als Juden, es ward noch mehr
für ſie als Jünger Chriſti eine heilige Nacht.
Mit welchem Herzklopfen gingen ſie wohl in ſie
hinein, ſie, die in ſo wenig Tagen ſo viel Uner-

war-
<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <pb facs="#f0038" n="24"/>
        <fw place="top" type="header">Un&#x017F;er Herr in der lezten Abendge&#x017F;ell&#x017F;chaft</fw><lb/>
        <p><hi rendition="#in">A</hi>l&#x017F;o gegen Abend kam Je&#x017F;us in dem gro&#x017F;&#x017F;en<lb/>
gepfla&#x017F;terten Saal mit &#x017F;einen Jüngern zu&#x017F;ammen,<lb/>
den er gemiethet hatte, um mit ihnen in Jeru-<lb/>
&#x017F;alem das O&#x017F;terlamm zu e&#x017F;&#x017F;en. Dies mußte bei<lb/>
den Juden zwi&#x017F;chen Abends ge&#x017F;chehen, zur Erin-<lb/>
nerung an iene Blutnacht, in welcher ihre Vor-<lb/>
fahren aus Aegypten geflüchtet waren. Bis in<lb/>
die Nacht daurte nun wohl die&#x017F;e Zu&#x017F;ammenkunft,<lb/>
und für die gegenwärtige Ab&#x017F;icht Je&#x017F;u war das<lb/>
&#x017F;ehr dienlich. Eine <hi rendition="#fr">nächtliche</hi> Zu&#x017F;ammenkunft<lb/>
hat &#x017F;chon an &#x017F;ich einen gewi&#x017F;&#x017F;en ver&#x017F;tohlnen Reiz;<lb/>
ganz anders würkt da das Ge&#x017F;präch, wie bei dem<lb/><hi rendition="#fr">Licht</hi> und <hi rendition="#fr">Geräu&#x017F;ch</hi> des Tags. Das Gemüth<lb/>
i&#x017F;t &#x017F;chon zur Vertraulichkeit ge&#x017F;timmt, durch das<lb/>
Ungewohnte, das Feierliche der Nacht. In der<lb/>
&#x017F;chlummernden Schöpfung fa&#x017F;t allein noch wach zu<lb/>
&#x017F;ein, bei dem gänzlichen Schweigen umher zu reden,<lb/>
und &#x017F;o lei&#x017F;e zu treten, als wollte man Nieman-<lb/>
den aus &#x017F;einem Schlafe &#x017F;tören, als wollte man<lb/>
auch von Niemanden in &#x017F;einem Unternehmen izt<lb/>
ge&#x017F;tört oder bemerkt &#x017F;ein, das i&#x017F;t &#x017F;chon etwas<lb/>
Eignes, was leicht ganz eigne Betrachtungen<lb/>
und Empfindungen in der Seele des Men&#x017F;chen<lb/>
hervorruft. Für die Jünger Je&#x017F;u war die&#x017F;e<lb/>
Nacht, gewis &#x017F;chon bei ihrem Anbruch, eine &#x017F;ehr<lb/>
feierliche Nacht, und &#x017F;ie ward, vor ihrem Ablauf,<lb/>
für &#x017F;ie zur merkwürdig&#x017F;ten Nacht, heller und<lb/>
dunkler, wie irgend ein Tag ihres Lebens. Es<lb/>
war vielleicht eine <hi rendition="#fr">&#x017F;anfte Frühlings<supplied>-</supplied>,</hi> es <hi rendition="#fr">war</hi><lb/>
&#x017F;chon für &#x017F;ie als <hi rendition="#fr">Juden,</hi> es <hi rendition="#fr">ward</hi> noch mehr<lb/>
für &#x017F;ie als Jünger <hi rendition="#fr">Chri&#x017F;ti</hi> eine <hi rendition="#fr">heilige Nacht.</hi><lb/>
Mit welchem Herzklopfen gingen &#x017F;ie wohl in &#x017F;ie<lb/>
hinein, &#x017F;ie, die in &#x017F;o wenig Tagen &#x017F;o viel Uner-<lb/>
<fw place="bottom" type="catch">war-</fw><lb/></p>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[24/0038] Unſer Herr in der lezten Abendgeſellſchaft Alſo gegen Abend kam Jeſus in dem groſſen gepflaſterten Saal mit ſeinen Jüngern zuſammen, den er gemiethet hatte, um mit ihnen in Jeru- ſalem das Oſterlamm zu eſſen. Dies mußte bei den Juden zwiſchen Abends geſchehen, zur Erin- nerung an iene Blutnacht, in welcher ihre Vor- fahren aus Aegypten geflüchtet waren. Bis in die Nacht daurte nun wohl dieſe Zuſammenkunft, und für die gegenwärtige Abſicht Jeſu war das ſehr dienlich. Eine nächtliche Zuſammenkunft hat ſchon an ſich einen gewiſſen verſtohlnen Reiz; ganz anders würkt da das Geſpräch, wie bei dem Licht und Geräuſch des Tags. Das Gemüth iſt ſchon zur Vertraulichkeit geſtimmt, durch das Ungewohnte, das Feierliche der Nacht. In der ſchlummernden Schöpfung faſt allein noch wach zu ſein, bei dem gänzlichen Schweigen umher zu reden, und ſo leiſe zu treten, als wollte man Nieman- den aus ſeinem Schlafe ſtören, als wollte man auch von Niemanden in ſeinem Unternehmen izt geſtört oder bemerkt ſein, das iſt ſchon etwas Eignes, was leicht ganz eigne Betrachtungen und Empfindungen in der Seele des Menſchen hervorruft. Für die Jünger Jeſu war dieſe Nacht, gewis ſchon bei ihrem Anbruch, eine ſehr feierliche Nacht, und ſie ward, vor ihrem Ablauf, für ſie zur merkwürdigſten Nacht, heller und dunkler, wie irgend ein Tag ihres Lebens. Es war vielleicht eine ſanfte Frühlings-, es war ſchon für ſie als Juden, es ward noch mehr für ſie als Jünger Chriſti eine heilige Nacht. Mit welchem Herzklopfen gingen ſie wohl in ſie hinein, ſie, die in ſo wenig Tagen ſo viel Uner- war-

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
TCF (tokenisiert, serialisiert, lemmatisiert, normalisiert)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde im Rahmen des Moduls DTA-Erweiterungen (DTAE) digitalisiert. Weitere Informationen …

Matthias Boenig, Yannic Bracke, Benjamin Fiechter, Susanne Haaf, Linda Kirsten, Xi Zhang: Arbeitsschritte im Digitalisierungsworkflow: Vorbereitung der Bildvorlagen für die Textdigitalisierung; Bearbeitung, Konvertierung und ggf. Nachstrukturierung der durch die Grepect GmbH bereitgestellten Texttranskription
Britt-Marie Schuster, Alexander Geyken, Susanne Haaf, Christopher Georgi, Linda Kirsten, Frauke Thielert, t.evo: Die Evolution von komplexen Textmustern: Aufbau eines Korpus historischer Erbauungsschriften zur Untersuchung der Mehrdimensionalität des Textmusterwandels
Berlin-Brandenburgische Akademie der Wissenschaften (BBAW): Langfristige Bereitstellung der DTA-Ausgabe



Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/thiess_andachtsbuch_1794
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/thiess_andachtsbuch_1794/38
Zitationshilfe: Thieß, Johann Otto: Unser Herr! in den lezten Tagen seines ersten und in den ersten Tagen seines andern Menschenlebens. Neue Aufl. Hannover, 1794, S. 24. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/thiess_andachtsbuch_1794/38>, abgerufen am 15.06.2024.