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Thieß, Johann Otto: Unser Herr! in den lezten Tagen seines ersten und in den ersten Tagen seines andern Menschenlebens. Neue Aufl. Hannover, 1794.

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Unser Herr,
als einiger Mittler zwischen Gott und den Menschen
durch seine Himmelfahrt zu vollenden. In der Be-
täubung, worin sie nun bei dem Grabe des Herrn, was
sie bewachen sollten, ohnmächtig zu Boden lagen, sahn
sie also nichts von dem, was hier eigentlich geschah, und
in der Bestürzung, womit sie, nach diesem Auftritt,
schnell hinweg eilten von dem Grabe, hörten sie auch
nichts von dem, was der Engel zu den Frauen sagte.
Wie diese frommen Selen sich leise herzumachten zu dem
heiligen Grabe, da waren iene rohe Menschen schon hin-
weg. Erwacht aus ihrer Ohnmacht, worin sie gleich
beim ersten Erdstoß fallen mußten, hatten sie nur gesehn,
was inzwischen bei dem Grabe Jesu vorgefallen war,
und dies, was sie wohl selbst nicht deutlich anzugeben
wußten, hatten sie nun gleich bei den Oberpriestern ein-
berichtet, und so waren sie denn, was sie als Augen-
zeugen
der Auferstehung Jesu doch nicht wohl hatten
sein können, leicht bestechliche Lügner.

So ward denn die sichtbare Auferstehung Jesu nur
von Engeln gefeiert. Es war, wie die Menschwer-
dung
des Sohnes Gottes, die größeste Feier der
Erde,
und darum kamen zu beiden Engel aus ihrem
hohen Himmel auf die Erde herab. Was wird das sein,
wenn der Erstandne einst wieder kommen wird, im Die-
nergefolg seiner Engel, als allgemeiner Todtenauferwek-
ker! Unsre Hülle ruht dann, vielleicht schon seit Jahr-
hunderten, tief verscharrt im Sande, und unser Geist,
der dann schon seinen künftigen Wohnsiz kennen gelernt
hat, verbindet sich dann wieder mit dieser Hülle, die nun
verklärt da steht, um nie wieder in den groben Staub
zu fallen. Er selbst, der Ewige, spricht zu dieser Ver-
bindung seinen Segen aus, und der Tod, dieser Fluch
der Sünde, trennt sie nicht mehr. Wie wird dann vor
der Ankunft ihres Herrn die ganze Schöpfung beben,
nicht in Furcht der Vernichtung, sondern in fröhlicher
Erwartung ihrer lezten Verwandlung, und also ersten
und völligsten Dauer. Mein alter Schädel, der sich
dann wieder an seinem Leibe zusammenfügt, wendet sich
dann im Grabe, und sieht mit verklärtem Blik aus ihm

heraus

Unſer Herr,
als einiger Mittler zwiſchen Gott und den Menſchen
durch ſeine Himmelfahrt zu vollenden. In der Be-
täubung, worin ſie nun bei dem Grabe des Herrn, was
ſie bewachen ſollten, ohnmächtig zu Boden lagen, ſahn
ſie alſo nichts von dem, was hier eigentlich geſchah, und
in der Beſtürzung, womit ſie, nach dieſem Auftritt,
ſchnell hinweg eilten von dem Grabe, hörten ſie auch
nichts von dem, was der Engel zu den Frauen ſagte.
Wie dieſe frommen Selen ſich leiſe herzumachten zu dem
heiligen Grabe, da waren iene rohe Menſchen ſchon hin-
weg. Erwacht aus ihrer Ohnmacht, worin ſie gleich
beim erſten Erdſtoß fallen mußten, hatten ſie nur geſehn,
was inzwiſchen bei dem Grabe Jeſu vorgefallen war,
und dies, was ſie wohl ſelbſt nicht deutlich anzugeben
wußten, hatten ſie nun gleich bei den Oberprieſtern ein-
berichtet, und ſo waren ſie denn, was ſie als Augen-
zeugen
der Auferſtehung Jeſu doch nicht wohl hatten
ſein können, leicht beſtechliche Lügner.

So ward denn die ſichtbare Auferſtehung Jeſu nur
von Engeln gefeiert. Es war, wie die Menſchwer-
dung
des Sohnes Gottes, die größeſte Feier der
Erde,
und darum kamen zu beiden Engel aus ihrem
hohen Himmel auf die Erde herab. Was wird das ſein,
wenn der Erſtandne einſt wieder kommen wird, im Die-
nergefolg ſeiner Engel, als allgemeiner Todtenauferwek-
ker! Unſre Hülle ruht dann, vielleicht ſchon ſeit Jahr-
hunderten, tief verſcharrt im Sande, und unſer Geiſt,
der dann ſchon ſeinen künftigen Wohnſiz kennen gelernt
hat, verbindet ſich dann wieder mit dieſer Hülle, die nun
verklärt da ſteht, um nie wieder in den groben Staub
zu fallen. Er ſelbſt, der Ewige, ſpricht zu dieſer Ver-
bindung ſeinen Segen aus, und der Tod, dieſer Fluch
der Sünde, trennt ſie nicht mehr. Wie wird dann vor
der Ankunft ihres Herrn die ganze Schöpfung beben,
nicht in Furcht der Vernichtung, ſondern in fröhlicher
Erwartung ihrer lezten Verwandlung, und alſo erſten
und völligſten Dauer. Mein alter Schädel, der ſich
dann wieder an ſeinem Leibe zuſammenfügt, wendet ſich
dann im Grabe, und ſieht mit verklärtem Blik aus ihm

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[140/0154] Unſer Herr, als einiger Mittler zwiſchen Gott und den Menſchen durch ſeine Himmelfahrt zu vollenden. In der Be- täubung, worin ſie nun bei dem Grabe des Herrn, was ſie bewachen ſollten, ohnmächtig zu Boden lagen, ſahn ſie alſo nichts von dem, was hier eigentlich geſchah, und in der Beſtürzung, womit ſie, nach dieſem Auftritt, ſchnell hinweg eilten von dem Grabe, hörten ſie auch nichts von dem, was der Engel zu den Frauen ſagte. Wie dieſe frommen Selen ſich leiſe herzumachten zu dem heiligen Grabe, da waren iene rohe Menſchen ſchon hin- weg. Erwacht aus ihrer Ohnmacht, worin ſie gleich beim erſten Erdſtoß fallen mußten, hatten ſie nur geſehn, was inzwiſchen bei dem Grabe Jeſu vorgefallen war, und dies, was ſie wohl ſelbſt nicht deutlich anzugeben wußten, hatten ſie nun gleich bei den Oberprieſtern ein- berichtet, und ſo waren ſie denn, was ſie als Augen- zeugen der Auferſtehung Jeſu doch nicht wohl hatten ſein können, leicht beſtechliche Lügner. So ward denn die ſichtbare Auferſtehung Jeſu nur von Engeln gefeiert. Es war, wie die Menſchwer- dung des Sohnes Gottes, die größeſte Feier der Erde, und darum kamen zu beiden Engel aus ihrem hohen Himmel auf die Erde herab. Was wird das ſein, wenn der Erſtandne einſt wieder kommen wird, im Die- nergefolg ſeiner Engel, als allgemeiner Todtenauferwek- ker! Unſre Hülle ruht dann, vielleicht ſchon ſeit Jahr- hunderten, tief verſcharrt im Sande, und unſer Geiſt, der dann ſchon ſeinen künftigen Wohnſiz kennen gelernt hat, verbindet ſich dann wieder mit dieſer Hülle, die nun verklärt da ſteht, um nie wieder in den groben Staub zu fallen. Er ſelbſt, der Ewige, ſpricht zu dieſer Ver- bindung ſeinen Segen aus, und der Tod, dieſer Fluch der Sünde, trennt ſie nicht mehr. Wie wird dann vor der Ankunft ihres Herrn die ganze Schöpfung beben, nicht in Furcht der Vernichtung, ſondern in fröhlicher Erwartung ihrer lezten Verwandlung, und alſo erſten und völligſten Dauer. Mein alter Schädel, der ſich dann wieder an ſeinem Leibe zuſammenfügt, wendet ſich dann im Grabe, und ſieht mit verklärtem Blik aus ihm heraus

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Zitationshilfe: Thieß, Johann Otto: Unser Herr! in den lezten Tagen seines ersten und in den ersten Tagen seines andern Menschenlebens. Neue Aufl. Hannover, 1794, S. 140. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/thiess_andachtsbuch_1794/154>, abgerufen am 29.11.2024.