ihr in einem oder dem andern Fall abzuweichen, das ist, sie so einmal aufzuopfern, daß er sie nur in diesem Au- genblick verlöre, in dem folgenden aber sie wieder an- nähme, wenn dieß möglich wäre. Aber sie ganz auf be- ständig mit allen ihren Folgen aufzugeben: was würde ihm diesen Verlust auch in dem längsten Leben ersetzen können? Gesetzt indessen, es sey nach kalter Ueberlegung sein Vortheil, sie ganz fahren zu lassen, wenn er überzeuget ist, daß sie ihm zu nichts mehr nütz- lich werde, wenn er sie nicht fahren lassen wolle: so lasse man ihn dagegen nur hierüber bloß zweifelhaft seyn, nicht gewiß es wissen, daß er sie in Zukunft genießen werde! kann ihm denn wohl die kälteste Vernunft ra- then, sie für irgend ein Gut der Erde hinzugeben?
Wohin zielt diese Einrichtung unserer Natur? Der Trieb geht dem Vergnügen nach, und wird auf diesem Wege zur Entwickelung und Erhöhung der Kräf- te geleitet. Der Mensch gewinnt die letztere lieb, an- fangs ihrer angenehmen Folgen wegen in den äußern Gefühlen, nachher ihrer selbst wegen, und macht sich ei- ne Absicht aus seiner Vervollkommnung, als aus einer Aufsammlung von Schätzen für die Zukunft. Die Be- gierde diese Schätze zu besitzen wird Leidenschaft, und bleibet es, wenn gleich die Aussicht auf die Zukunft sich verdunkeit. Diese Richtung in unsern Trieben ist ohne Zweifel durch Erziehung und Unterricht befördert. Aber auch selbst in der Anlage der Natur findet sich eine Be- ziehung der Vermögen, die sie einer solchen Lenkung nicht nur empfänglich macht, sondern von selbst dahin treibt. Erfolget dieselbe, so ist dieß blos eine Entwi- ckelung der natürlichen Einrichtung. Denn so viel ist doch bey den Menschen allgemein, und auch da, wo der Unterricht am wenigsten bedeutet. Jeder sucht sich das
Leben
IITheil. G g g
und Entwickelung des Menſchen.
ihr in einem oder dem andern Fall abzuweichen, das iſt, ſie ſo einmal aufzuopfern, daß er ſie nur in dieſem Au- genblick verloͤre, in dem folgenden aber ſie wieder an- naͤhme, wenn dieß moͤglich waͤre. Aber ſie ganz auf be- ſtaͤndig mit allen ihren Folgen aufzugeben: was wuͤrde ihm dieſen Verluſt auch in dem laͤngſten Leben erſetzen koͤnnen? Geſetzt indeſſen, es ſey nach kalter Ueberlegung ſein Vortheil, ſie ganz fahren zu laſſen, wenn er uͤberzeuget iſt, daß ſie ihm zu nichts mehr nuͤtz- lich werde, wenn er ſie nicht fahren laſſen wolle: ſo laſſe man ihn dagegen nur hieruͤber bloß zweifelhaft ſeyn, nicht gewiß es wiſſen, daß er ſie in Zukunft genießen werde! kann ihm denn wohl die kaͤlteſte Vernunft ra- then, ſie fuͤr irgend ein Gut der Erde hinzugeben?
Wohin zielt dieſe Einrichtung unſerer Natur? Der Trieb geht dem Vergnuͤgen nach, und wird auf dieſem Wege zur Entwickelung und Erhoͤhung der Kraͤf- te geleitet. Der Menſch gewinnt die letztere lieb, an- fangs ihrer angenehmen Folgen wegen in den aͤußern Gefuͤhlen, nachher ihrer ſelbſt wegen, und macht ſich ei- ne Abſicht aus ſeiner Vervollkommnung, als aus einer Aufſammlung von Schaͤtzen fuͤr die Zukunft. Die Be- gierde dieſe Schaͤtze zu beſitzen wird Leidenſchaft, und bleibet es, wenn gleich die Ausſicht auf die Zukunft ſich verdunkeit. Dieſe Richtung in unſern Trieben iſt ohne Zweifel durch Erziehung und Unterricht befoͤrdert. Aber auch ſelbſt in der Anlage der Natur findet ſich eine Be- ziehung der Vermoͤgen, die ſie einer ſolchen Lenkung nicht nur empfaͤnglich macht, ſondern von ſelbſt dahin treibt. Erfolget dieſelbe, ſo iſt dieß blos eine Entwi- ckelung der natuͤrlichen Einrichtung. Denn ſo viel iſt doch bey den Menſchen allgemein, und auch da, wo der Unterricht am wenigſten bedeutet. Jeder ſucht ſich das
Leben
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und Entwickelung des Menſchen.
ihr in einem oder dem andern Fall abzuweichen, das iſt,
ſie ſo einmal aufzuopfern, daß er ſie nur in dieſem Au-
genblick verloͤre, in dem folgenden aber ſie wieder an-
naͤhme, wenn dieß moͤglich waͤre. Aber ſie ganz auf be-
ſtaͤndig mit allen ihren Folgen aufzugeben: was
wuͤrde ihm dieſen Verluſt auch in dem laͤngſten Leben
erſetzen koͤnnen? Geſetzt indeſſen, es ſey nach kalter
Ueberlegung ſein Vortheil, ſie ganz fahren zu laſſen,
wenn er uͤberzeuget iſt, daß ſie ihm zu nichts mehr nuͤtz-
lich werde, wenn er ſie nicht fahren laſſen wolle: ſo
laſſe man ihn dagegen nur hieruͤber bloß zweifelhaft ſeyn,
nicht gewiß es wiſſen, daß er ſie in Zukunft genießen
werde! kann ihm denn wohl die kaͤlteſte Vernunft ra-
then, ſie fuͤr irgend ein Gut der Erde hinzugeben?
Wohin zielt dieſe Einrichtung unſerer Natur?
Der Trieb geht dem Vergnuͤgen nach, und wird auf
dieſem Wege zur Entwickelung und Erhoͤhung der Kraͤf-
te geleitet. Der Menſch gewinnt die letztere lieb, an-
fangs ihrer angenehmen Folgen wegen in den aͤußern
Gefuͤhlen, nachher ihrer ſelbſt wegen, und macht ſich ei-
ne Abſicht aus ſeiner Vervollkommnung, als aus einer
Aufſammlung von Schaͤtzen fuͤr die Zukunft. Die Be-
gierde dieſe Schaͤtze zu beſitzen wird Leidenſchaft, und
bleibet es, wenn gleich die Ausſicht auf die Zukunft ſich
verdunkeit. Dieſe Richtung in unſern Trieben iſt ohne
Zweifel durch Erziehung und Unterricht befoͤrdert. Aber
auch ſelbſt in der Anlage der Natur findet ſich eine Be-
ziehung der Vermoͤgen, die ſie einer ſolchen Lenkung
nicht nur empfaͤnglich macht, ſondern von ſelbſt dahin
treibt. Erfolget dieſelbe, ſo iſt dieß blos eine Entwi-
ckelung der natuͤrlichen Einrichtung. Denn ſo viel iſt
doch bey den Menſchen allgemein, und auch da, wo der
Unterricht am wenigſten bedeutet. Jeder ſucht ſich das
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II Theil. G g g
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Tetens, Johann Nicolas: Philosophische Versuche über die menschliche Natur und ihre Entwickelung. Bd. 2. Leipzig, 1777, S. 833. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/tetens_versuche02_1777/863>, abgerufen am 23.11.2024.
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