Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Tetens, Johann Nicolas: Philosophische Versuche über die menschliche Natur und ihre Entwickelung. Bd. 2. Leipzig, 1777.

Bild:
<< vorherige Seite

und Entwickelung des Menschen.
bey ganzen Völkern, als bey Jndividuen. Die Ent-
wickelung geht bey einigen geschwinder, bey andern lang-
samer fort; und daher erfolgt auch die Reife und der
Stillstand früher oder später. Jndessen findet sich doch
auch hierinn etwas allgemeines, bey allen, das uns auch
wiederum auf die allgemeine Geschlechtsgleichheit zurück-
führet. Aber es giebt auch Verschiedenheit genug, die
schon in der angebornen Natur, oder in den äußern Um-
ständen, oder in beiden, ihren Grund hat. Die früh-
zeitige Anführung der Jugend thut hierzu sehr viel, wie
die Erfahrung lehret. Sie zeitiget die Ueberlegungs-
kraft, durch die beständige Uebung, in Kindern, die fast
allein in dem Umgang der schon gesetzten Erwachsenen
gebildet werden, und beschleuniget daher die natürliche
Mündigkeit einigermaßen. Dennoch aber ist ihr Ein-
fluß in Hinsicht der absoluten Vermögen nicht so groß,
als in Hinsicht der besondern Geschicklichkeiten.

Dieß ist freylich nur noch etwas sehr Allgemeines
und Unbestimmtes. Und viel mehr Bestimmtes läßt
sich auch zur Zeit noch wohl nicht aus den Beobachtun-
gen angeben. Diese sind selbst noch so unvollständig,
besonders in Hinsicht der Grade und Stufen in den
Wirkungen, worauf doch so vieles ankommt. Viel-
leicht ist zu hoffen, die Geschichte der Erziehung, dieser
wichtige Beytrag zur Experimentalphysik der Seele, mit
der kaum ein Anfang gemacht ist, werde uns künftig
sorgfältigere und genauere Wahrnehmungen, auch wohl
gar Versuche, hierüber liefern. *)

3. Die
*) Hr. Ulloa sagt von den Einwohnern zu Carthagena in
Amerika, was auch andere schon vor ihm bemerkt ha-
ben, daß ihr Verstand sich ausnehmend zeitig entwickle.
Jhre Kinder von zwey Jahren sprechen und handeln ver-
nünftiger, als sie es anderswo von vier und fünf Jah-
ren thun. Jene besitzen überhaupt eine schnelle Fas-
sungs-
Y y 5

und Entwickelung des Menſchen.
bey ganzen Voͤlkern, als bey Jndividuen. Die Ent-
wickelung geht bey einigen geſchwinder, bey andern lang-
ſamer fort; und daher erfolgt auch die Reife und der
Stillſtand fruͤher oder ſpaͤter. Jndeſſen findet ſich doch
auch hierinn etwas allgemeines, bey allen, das uns auch
wiederum auf die allgemeine Geſchlechtsgleichheit zuruͤck-
fuͤhret. Aber es giebt auch Verſchiedenheit genug, die
ſchon in der angebornen Natur, oder in den aͤußern Um-
ſtaͤnden, oder in beiden, ihren Grund hat. Die fruͤh-
zeitige Anfuͤhrung der Jugend thut hierzu ſehr viel, wie
die Erfahrung lehret. Sie zeitiget die Ueberlegungs-
kraft, durch die beſtaͤndige Uebung, in Kindern, die faſt
allein in dem Umgang der ſchon geſetzten Erwachſenen
gebildet werden, und beſchleuniget daher die natuͤrliche
Muͤndigkeit einigermaßen. Dennoch aber iſt ihr Ein-
fluß in Hinſicht der abſoluten Vermoͤgen nicht ſo groß,
als in Hinſicht der beſondern Geſchicklichkeiten.

Dieß iſt freylich nur noch etwas ſehr Allgemeines
und Unbeſtimmtes. Und viel mehr Beſtimmtes laͤßt
ſich auch zur Zeit noch wohl nicht aus den Beobachtun-
gen angeben. Dieſe ſind ſelbſt noch ſo unvollſtaͤndig,
beſonders in Hinſicht der Grade und Stufen in den
Wirkungen, worauf doch ſo vieles ankommt. Viel-
leicht iſt zu hoffen, die Geſchichte der Erziehung, dieſer
wichtige Beytrag zur Experimentalphyſik der Seele, mit
der kaum ein Anfang gemacht iſt, werde uns kuͤnftig
ſorgfaͤltigere und genauere Wahrnehmungen, auch wohl
gar Verſuche, hieruͤber liefern. *)

3. Die
*) Hr. Ulloa ſagt von den Einwohnern zu Carthagena in
Amerika, was auch andere ſchon vor ihm bemerkt ha-
ben, daß ihr Verſtand ſich ausnehmend zeitig entwickle.
Jhre Kinder von zwey Jahren ſprechen und handeln ver-
nuͤnftiger, als ſie es anderswo von vier und fuͤnf Jah-
ren thun. Jene beſitzen uͤberhaupt eine ſchnelle Faſ-
ſungs-
Y y 5
<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <div n="2">
          <div n="3">
            <div n="4">
              <p><pb facs="#f0743" n="713"/><fw place="top" type="header"><hi rendition="#b">und Entwickelung des Men&#x017F;chen.</hi></fw><lb/>
bey ganzen Vo&#x0364;lkern, als bey Jndividuen. Die Ent-<lb/>
wickelung geht bey einigen ge&#x017F;chwinder, bey andern lang-<lb/>
&#x017F;amer fort; und daher erfolgt auch die Reife und der<lb/>
Still&#x017F;tand fru&#x0364;her oder &#x017F;pa&#x0364;ter. Jnde&#x017F;&#x017F;en findet &#x017F;ich doch<lb/>
auch hierinn etwas allgemeines, bey allen, das uns auch<lb/>
wiederum auf die allgemeine Ge&#x017F;chlechtsgleichheit zuru&#x0364;ck-<lb/>
fu&#x0364;hret. Aber es giebt auch Ver&#x017F;chiedenheit genug, die<lb/>
&#x017F;chon in der angebornen Natur, oder in den a&#x0364;ußern Um-<lb/>
&#x017F;ta&#x0364;nden, oder in beiden, ihren Grund hat. Die fru&#x0364;h-<lb/>
zeitige Anfu&#x0364;hrung der Jugend thut hierzu &#x017F;ehr viel, wie<lb/>
die Erfahrung lehret. Sie zeitiget die Ueberlegungs-<lb/>
kraft, durch die be&#x017F;ta&#x0364;ndige Uebung, in Kindern, die fa&#x017F;t<lb/>
allein in dem Umgang der &#x017F;chon ge&#x017F;etzten Erwach&#x017F;enen<lb/>
gebildet werden, und be&#x017F;chleuniget daher die natu&#x0364;rliche<lb/>
Mu&#x0364;ndigkeit einigermaßen. Dennoch aber i&#x017F;t ihr Ein-<lb/>
fluß in Hin&#x017F;icht der ab&#x017F;oluten Vermo&#x0364;gen nicht &#x017F;o groß,<lb/>
als in Hin&#x017F;icht der be&#x017F;ondern Ge&#x017F;chicklichkeiten.</p><lb/>
              <p>Dieß i&#x017F;t freylich nur noch etwas &#x017F;ehr Allgemeines<lb/>
und Unbe&#x017F;timmtes. Und viel mehr Be&#x017F;timmtes la&#x0364;ßt<lb/>
&#x017F;ich auch zur Zeit noch wohl nicht aus den Beobachtun-<lb/>
gen angeben. Die&#x017F;e &#x017F;ind &#x017F;elb&#x017F;t noch &#x017F;o unvoll&#x017F;ta&#x0364;ndig,<lb/>
be&#x017F;onders in Hin&#x017F;icht der Grade und Stufen in den<lb/>
Wirkungen, worauf doch &#x017F;o vieles ankommt. Viel-<lb/>
leicht i&#x017F;t zu hoffen, die Ge&#x017F;chichte der Erziehung, die&#x017F;er<lb/>
wichtige Beytrag zur Experimentalphy&#x017F;ik der Seele, mit<lb/>
der kaum ein Anfang gemacht i&#x017F;t, werde uns ku&#x0364;nftig<lb/>
&#x017F;orgfa&#x0364;ltigere und genauere Wahrnehmungen, auch wohl<lb/>
gar Ver&#x017F;uche, hieru&#x0364;ber liefern. <note xml:id="F9" next="F10" place="foot" n="*)">Hr. Ulloa &#x017F;agt von den Einwohnern zu Carthagena in<lb/>
Amerika, was auch andere &#x017F;chon vor ihm bemerkt ha-<lb/>
ben, daß ihr Ver&#x017F;tand &#x017F;ich ausnehmend zeitig entwickle.<lb/>
Jhre Kinder von zwey Jahren &#x017F;prechen und handeln ver-<lb/>
nu&#x0364;nftiger, als &#x017F;ie es anderswo von vier und fu&#x0364;nf Jah-<lb/>
ren thun. Jene be&#x017F;itzen u&#x0364;berhaupt eine &#x017F;chnelle Fa&#x017F;-<lb/>
<fw place="bottom" type="catch">&#x017F;ungs-</fw></note></p>
            </div><lb/>
            <fw place="bottom" type="sig">Y y 5</fw>
            <fw place="bottom" type="catch">3. Die</fw><lb/>
          </div>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[713/0743] und Entwickelung des Menſchen. bey ganzen Voͤlkern, als bey Jndividuen. Die Ent- wickelung geht bey einigen geſchwinder, bey andern lang- ſamer fort; und daher erfolgt auch die Reife und der Stillſtand fruͤher oder ſpaͤter. Jndeſſen findet ſich doch auch hierinn etwas allgemeines, bey allen, das uns auch wiederum auf die allgemeine Geſchlechtsgleichheit zuruͤck- fuͤhret. Aber es giebt auch Verſchiedenheit genug, die ſchon in der angebornen Natur, oder in den aͤußern Um- ſtaͤnden, oder in beiden, ihren Grund hat. Die fruͤh- zeitige Anfuͤhrung der Jugend thut hierzu ſehr viel, wie die Erfahrung lehret. Sie zeitiget die Ueberlegungs- kraft, durch die beſtaͤndige Uebung, in Kindern, die faſt allein in dem Umgang der ſchon geſetzten Erwachſenen gebildet werden, und beſchleuniget daher die natuͤrliche Muͤndigkeit einigermaßen. Dennoch aber iſt ihr Ein- fluß in Hinſicht der abſoluten Vermoͤgen nicht ſo groß, als in Hinſicht der beſondern Geſchicklichkeiten. Dieß iſt freylich nur noch etwas ſehr Allgemeines und Unbeſtimmtes. Und viel mehr Beſtimmtes laͤßt ſich auch zur Zeit noch wohl nicht aus den Beobachtun- gen angeben. Dieſe ſind ſelbſt noch ſo unvollſtaͤndig, beſonders in Hinſicht der Grade und Stufen in den Wirkungen, worauf doch ſo vieles ankommt. Viel- leicht iſt zu hoffen, die Geſchichte der Erziehung, dieſer wichtige Beytrag zur Experimentalphyſik der Seele, mit der kaum ein Anfang gemacht iſt, werde uns kuͤnftig ſorgfaͤltigere und genauere Wahrnehmungen, auch wohl gar Verſuche, hieruͤber liefern. *) 3. Die *) Hr. Ulloa ſagt von den Einwohnern zu Carthagena in Amerika, was auch andere ſchon vor ihm bemerkt ha- ben, daß ihr Verſtand ſich ausnehmend zeitig entwickle. Jhre Kinder von zwey Jahren ſprechen und handeln ver- nuͤnftiger, als ſie es anderswo von vier und fuͤnf Jah- ren thun. Jene beſitzen uͤberhaupt eine ſchnelle Faſ- ſungs- Y y 5

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien im Double-Keying-Verfahren von Nicht-Muttersprachlern erfasst und in XML/TEI P5 nach DTA-Basisformat kodiert.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/tetens_versuche02_1777
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/tetens_versuche02_1777/743
Zitationshilfe: Tetens, Johann Nicolas: Philosophische Versuche über die menschliche Natur und ihre Entwickelung. Bd. 2. Leipzig, 1777, S. 713. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/tetens_versuche02_1777/743>, abgerufen am 18.12.2024.