Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Tetens, Johann Nicolas: Philosophische Versuche über die menschliche Natur und ihre Entwickelung. Bd. 2. Leipzig, 1777.

Bild:
<< vorherige Seite

XIV. Vers. Ueber die Perfektibilität
die Menschenliebe Schwärmerey ist, daß die Ungleich-
heit sowohl geschätzet werde, als die Gleichheit. Die
Ungleichheit in den Stufen ist nicht unerheblich. Der
Vorzug des Verständigen vor dem Einfältigen, des
Aufgeklärten vor dem dummen Barbaren, des Gesitte-
ten vor dem Ungesitteten, des Tapfern vor dem Feigen,
und, welcher Unterschied in seinen Folgen der allerwich-
tigste ist, des Rechtschaffenen vor dem Bösewicht, ist
unschätzbar und alles unsers Verlangens und Bestre-
bens würdig. Der Brittische Matrose, der eben noch
nicht hoch in der Klasse der kultivirten Menschen stehet,
ist auf Neuseeland oder am Feuerlande ein großer her-
vorragender Mann, von innerer Würde. Es ist der
auffallendste Beweis von dem natürlichen Vorzuge des
Menschen vor den Thieren, wie Buffon sagt, daß
jener diese sich unterwürfig machen kann, die Thiere
aber den Menschen nicht. So groß ist zwar der Vor-
zug des Kultivirten vor dem Wilden nicht; aber etwas
davon ist vorhanden. Er weiß doch, seiner schwächern
Kräfte des Körpers ohnerachtet, die Wilden zu zwin-
gen, zu regieren und nach seinen Absichten zu lenken,
wie der Wilde bey den Thieren es vermag. Die kulti-
virten Völker haben in allen Welttheilen mit einer Hand-
voll Menschen unzähliche Haufen von unkultivirten un-
ters Joch gebracht. *) Man kann also zwar ganz rich-

tig
*) Der Hr. von Paw hat es in seinen recherches sur les
Americains
als einen Hauptgrund der vorzüglichen na-
türlichen Dummheit der Amerikaner angegeben, daß
Reiche, als Mexico und Peru, von einer sehr gerin-
gen Anzahl von Spaniern erobert worden sind. Aber
man vergleiche die Nachrichten von den ersten Erobe-
rungen der Portugiesen an der östlichen Küste von
Afrika und in Ostindien, so findet man Beyspiele von
Siegen, die den spanischen in Amerika gleich sind.
Man könnte auf eine ähnliche Art hieraus folgern, die
Einwoh-

XIV. Verſ. Ueber die Perfektibilitaͤt
die Menſchenliebe Schwaͤrmerey iſt, daß die Ungleich-
heit ſowohl geſchaͤtzet werde, als die Gleichheit. Die
Ungleichheit in den Stufen iſt nicht unerheblich. Der
Vorzug des Verſtaͤndigen vor dem Einfaͤltigen, des
Aufgeklaͤrten vor dem dummen Barbaren, des Geſitte-
ten vor dem Ungeſitteten, des Tapfern vor dem Feigen,
und, welcher Unterſchied in ſeinen Folgen der allerwich-
tigſte iſt, des Rechtſchaffenen vor dem Boͤſewicht, iſt
unſchaͤtzbar und alles unſers Verlangens und Beſtre-
bens wuͤrdig. Der Brittiſche Matroſe, der eben noch
nicht hoch in der Klaſſe der kultivirten Menſchen ſtehet,
iſt auf Neuſeeland oder am Feuerlande ein großer her-
vorragender Mann, von innerer Wuͤrde. Es iſt der
auffallendſte Beweis von dem natuͤrlichen Vorzuge des
Menſchen vor den Thieren, wie Buffon ſagt, daß
jener dieſe ſich unterwuͤrfig machen kann, die Thiere
aber den Menſchen nicht. So groß iſt zwar der Vor-
zug des Kultivirten vor dem Wilden nicht; aber etwas
davon iſt vorhanden. Er weiß doch, ſeiner ſchwaͤchern
Kraͤfte des Koͤrpers ohnerachtet, die Wilden zu zwin-
gen, zu regieren und nach ſeinen Abſichten zu lenken,
wie der Wilde bey den Thieren es vermag. Die kulti-
virten Voͤlker haben in allen Welttheilen mit einer Hand-
voll Menſchen unzaͤhliche Haufen von unkultivirten un-
ters Joch gebracht. *) Man kann alſo zwar ganz rich-

tig
*) Der Hr. von Paw hat es in ſeinen recherches ſur les
Americains
als einen Hauptgrund der vorzuͤglichen na-
tuͤrlichen Dummheit der Amerikaner angegeben, daß
Reiche, als Mexico und Peru, von einer ſehr gerin-
gen Anzahl von Spaniern erobert worden ſind. Aber
man vergleiche die Nachrichten von den erſten Erobe-
rungen der Portugieſen an der oͤſtlichen Kuͤſte von
Afrika und in Oſtindien, ſo findet man Beyſpiele von
Siegen, die den ſpaniſchen in Amerika gleich ſind.
Man koͤnnte auf eine aͤhnliche Art hieraus folgern, die
Einwoh-
<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <div n="2">
          <div n="3">
            <div n="4">
              <p><pb facs="#f0716" n="686"/><fw place="top" type="header"><hi rendition="#b"><hi rendition="#aq">XIV.</hi> Ver&#x017F;. Ueber die Perfektibilita&#x0364;t</hi></fw><lb/>
die Men&#x017F;chenliebe Schwa&#x0364;rmerey i&#x017F;t, daß die Ungleich-<lb/>
heit &#x017F;owohl ge&#x017F;cha&#x0364;tzet werde, als die Gleichheit. Die<lb/>
Ungleichheit in den Stufen i&#x017F;t nicht unerheblich. Der<lb/>
Vorzug des Ver&#x017F;ta&#x0364;ndigen vor dem Einfa&#x0364;ltigen, des<lb/>
Aufgekla&#x0364;rten vor dem dummen Barbaren, des Ge&#x017F;itte-<lb/>
ten vor dem Unge&#x017F;itteten, des Tapfern vor dem Feigen,<lb/>
und, welcher Unter&#x017F;chied in &#x017F;einen Folgen der allerwich-<lb/>
tig&#x017F;te i&#x017F;t, des Recht&#x017F;chaffenen vor dem Bo&#x0364;&#x017F;ewicht, i&#x017F;t<lb/>
un&#x017F;cha&#x0364;tzbar und alles un&#x017F;ers Verlangens und Be&#x017F;tre-<lb/>
bens wu&#x0364;rdig. Der Britti&#x017F;che Matro&#x017F;e, der eben noch<lb/>
nicht hoch in der Kla&#x017F;&#x017F;e der kultivirten Men&#x017F;chen &#x017F;tehet,<lb/>
i&#x017F;t auf Neu&#x017F;eeland oder am Feuerlande ein großer her-<lb/>
vorragender Mann, von innerer Wu&#x0364;rde. Es i&#x017F;t der<lb/>
auffallend&#x017F;te Beweis von dem natu&#x0364;rlichen Vorzuge des<lb/>
Men&#x017F;chen vor den Thieren, wie <hi rendition="#fr">Buffon</hi> &#x017F;agt, daß<lb/>
jener die&#x017F;e &#x017F;ich unterwu&#x0364;rfig machen kann, die Thiere<lb/>
aber den Men&#x017F;chen nicht. So groß i&#x017F;t zwar der Vor-<lb/>
zug des Kultivirten vor dem Wilden nicht; aber etwas<lb/>
davon i&#x017F;t vorhanden. Er weiß doch, &#x017F;einer &#x017F;chwa&#x0364;chern<lb/>
Kra&#x0364;fte des Ko&#x0364;rpers ohnerachtet, die Wilden zu zwin-<lb/>
gen, zu regieren und nach &#x017F;einen Ab&#x017F;ichten zu lenken,<lb/>
wie der Wilde bey den Thieren es vermag. Die kulti-<lb/>
virten Vo&#x0364;lker haben in allen Welttheilen mit einer Hand-<lb/>
voll Men&#x017F;chen unza&#x0364;hliche Haufen von unkultivirten un-<lb/>
ters Joch gebracht. <note xml:id="F7" next="F8" place="foot" n="*)">Der Hr. von <hi rendition="#fr">Paw</hi> hat es in &#x017F;einen <hi rendition="#aq">recherches &#x017F;ur les<lb/>
Americains</hi> als einen Hauptgrund der vorzu&#x0364;glichen na-<lb/>
tu&#x0364;rlichen Dummheit der Amerikaner angegeben, daß<lb/>
Reiche, als Mexico und Peru, von einer &#x017F;ehr gerin-<lb/>
gen Anzahl von Spaniern erobert worden &#x017F;ind. Aber<lb/>
man vergleiche die Nachrichten von den er&#x017F;ten Erobe-<lb/>
rungen der Portugie&#x017F;en an der o&#x0364;&#x017F;tlichen Ku&#x0364;&#x017F;te von<lb/>
Afrika und in O&#x017F;tindien, &#x017F;o findet man Bey&#x017F;piele von<lb/>
Siegen, die den &#x017F;pani&#x017F;chen in Amerika gleich &#x017F;ind.<lb/>
Man ko&#x0364;nnte auf eine a&#x0364;hnliche Art hieraus folgern, die<lb/>
<fw place="bottom" type="catch">Einwoh-</fw></note> Man kann al&#x017F;o zwar ganz rich-<lb/>
<fw place="bottom" type="catch">tig</fw><lb/></p>
            </div>
          </div>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[686/0716] XIV. Verſ. Ueber die Perfektibilitaͤt die Menſchenliebe Schwaͤrmerey iſt, daß die Ungleich- heit ſowohl geſchaͤtzet werde, als die Gleichheit. Die Ungleichheit in den Stufen iſt nicht unerheblich. Der Vorzug des Verſtaͤndigen vor dem Einfaͤltigen, des Aufgeklaͤrten vor dem dummen Barbaren, des Geſitte- ten vor dem Ungeſitteten, des Tapfern vor dem Feigen, und, welcher Unterſchied in ſeinen Folgen der allerwich- tigſte iſt, des Rechtſchaffenen vor dem Boͤſewicht, iſt unſchaͤtzbar und alles unſers Verlangens und Beſtre- bens wuͤrdig. Der Brittiſche Matroſe, der eben noch nicht hoch in der Klaſſe der kultivirten Menſchen ſtehet, iſt auf Neuſeeland oder am Feuerlande ein großer her- vorragender Mann, von innerer Wuͤrde. Es iſt der auffallendſte Beweis von dem natuͤrlichen Vorzuge des Menſchen vor den Thieren, wie Buffon ſagt, daß jener dieſe ſich unterwuͤrfig machen kann, die Thiere aber den Menſchen nicht. So groß iſt zwar der Vor- zug des Kultivirten vor dem Wilden nicht; aber etwas davon iſt vorhanden. Er weiß doch, ſeiner ſchwaͤchern Kraͤfte des Koͤrpers ohnerachtet, die Wilden zu zwin- gen, zu regieren und nach ſeinen Abſichten zu lenken, wie der Wilde bey den Thieren es vermag. Die kulti- virten Voͤlker haben in allen Welttheilen mit einer Hand- voll Menſchen unzaͤhliche Haufen von unkultivirten un- ters Joch gebracht. *) Man kann alſo zwar ganz rich- tig *) Der Hr. von Paw hat es in ſeinen recherches ſur les Americains als einen Hauptgrund der vorzuͤglichen na- tuͤrlichen Dummheit der Amerikaner angegeben, daß Reiche, als Mexico und Peru, von einer ſehr gerin- gen Anzahl von Spaniern erobert worden ſind. Aber man vergleiche die Nachrichten von den erſten Erobe- rungen der Portugieſen an der oͤſtlichen Kuͤſte von Afrika und in Oſtindien, ſo findet man Beyſpiele von Siegen, die den ſpaniſchen in Amerika gleich ſind. Man koͤnnte auf eine aͤhnliche Art hieraus folgern, die Einwoh-

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
TCF (tokenisiert, serialisiert, lemmatisiert, normalisiert)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien im Double-Keying-Verfahren von Nicht-Muttersprachlern erfasst und in XML/TEI P5 nach DTA-Basisformat kodiert.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/tetens_versuche02_1777
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/tetens_versuche02_1777/716
Zitationshilfe: Tetens, Johann Nicolas: Philosophische Versuche über die menschliche Natur und ihre Entwickelung. Bd. 2. Leipzig, 1777, S. 686. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/tetens_versuche02_1777/716>, abgerufen am 19.05.2024.