Tetens, Johann Nicolas: Philosophische Versuche über die menschliche Natur und ihre Entwickelung. Bd. 2. Leipzig, 1777.und Entwickelung des Menschen. Gleichheit, nicht mehr so groß als jene. Die Menschenzeigen sich wie die Pflanzen desto mehr von einander ver- schieden, je weiter jeder auf seine Art in der Ausbildung kommt. Aber wie weit die letztere gehe und wie begren- zet sie sey, erhellet zugleich aus demselbigen Grundsatz, der die Gleichheit selbst bestimmet. Wenn alle völlig organisirte und erwachsene Menschen zu einer und dersel- bigen Klasse selbstthätighandelnder gehören, so giebt es doch eine Stufenverschiedenheit, die ihre großen Folgen hat, wie die Gleichheit selbst. Die physischen Verhält- nisse der Dinge sind die ersten ursprünglichen Gründe zu den moralischen und rechtlichen Verhältnissen. Aber so wie die physische Gleichheit der Menschen eine Gleichheit der Rechte zur Folge hat: so muß auch eine physische Ungleichheit in den Graden eine Ein- schränkung der moralischen und rechtlichen Gleichheit nach sich ziehen. Wenn die Gleichheit der Menschen ver- kannt wird, so wird Stolz, Menschenverachtung, Un- terdrückungsgeist und Tyranney genährt. Allein Miß- kenntniß der Grenzen dieser Gleichheit kann einen gewis- sen menschenfeindlichen Fanatismus erzeugen, der in seinen Folgen vielleicht eben so schädlich werden möchte, als jene entgegengesetzten Fehler geworden sind; wenns nur möglich wäre, daß er eben so leicht und so weit sich ausbreiten könnte. Zum Glück ist dieß letztere nicht sehr zu besorgen. Der stolze Gedanke, daß andere Men- schen weniger werth sind, als wir und die, welche uns am nächsten und ähnlichsten sind, findet im Ganzen viel leichter und mehr Beyfall, als der Gedanke, daß wir auch die Verachtetesten als unsers Gleichen zu be- trachten haben. Und darum kann die alles unparthey- isch beurtheilende Vernunft geruhig darüber seyn, daß man die Einschränkungen der Gleichheit nicht finden soll- te, da die Eigenliebe solche mit Eifer aufsuchet. Jn- dessen erfodert es die gerechte Wahrheit, ohne welche die
und Entwickelung des Menſchen. Gleichheit, nicht mehr ſo groß als jene. Die Menſchenzeigen ſich wie die Pflanzen deſto mehr von einander ver- ſchieden, je weiter jeder auf ſeine Art in der Ausbildung kommt. Aber wie weit die letztere gehe und wie begren- zet ſie ſey, erhellet zugleich aus demſelbigen Grundſatz, der die Gleichheit ſelbſt beſtimmet. Wenn alle voͤllig organiſirte und erwachſene Menſchen zu einer und derſel- bigen Klaſſe ſelbſtthaͤtighandelnder gehoͤren, ſo giebt es doch eine Stufenverſchiedenheit, die ihre großen Folgen hat, wie die Gleichheit ſelbſt. Die phyſiſchen Verhaͤlt- niſſe der Dinge ſind die erſten urſpruͤnglichen Gruͤnde zu den moraliſchen und rechtlichen Verhaͤltniſſen. Aber ſo wie die phyſiſche Gleichheit der Menſchen eine Gleichheit der Rechte zur Folge hat: ſo muß auch eine phyſiſche Ungleichheit in den Graden eine Ein- ſchraͤnkung der moraliſchen und rechtlichen Gleichheit nach ſich ziehen. Wenn die Gleichheit der Menſchen ver- kannt wird, ſo wird Stolz, Menſchenverachtung, Un- terdruͤckungsgeiſt und Tyranney genaͤhrt. Allein Miß- kenntniß der Grenzen dieſer Gleichheit kann einen gewiſ- ſen menſchenfeindlichen Fanatismus erzeugen, der in ſeinen Folgen vielleicht eben ſo ſchaͤdlich werden moͤchte, als jene entgegengeſetzten Fehler geworden ſind; wenns nur moͤglich waͤre, daß er eben ſo leicht und ſo weit ſich ausbreiten koͤnnte. Zum Gluͤck iſt dieß letztere nicht ſehr zu beſorgen. Der ſtolze Gedanke, daß andere Men- ſchen weniger werth ſind, als wir und die, welche uns am naͤchſten und aͤhnlichſten ſind, findet im Ganzen viel leichter und mehr Beyfall, als der Gedanke, daß wir auch die Verachteteſten als unſers Gleichen zu be- trachten haben. Und darum kann die alles unparthey- iſch beurtheilende Vernunft geruhig daruͤber ſeyn, daß man die Einſchraͤnkungen der Gleichheit nicht finden ſoll- te, da die Eigenliebe ſolche mit Eifer aufſuchet. Jn- deſſen erfodert es die gerechte Wahrheit, ohne welche die
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und Entwickelung des Menſchen.
Gleichheit, nicht mehr ſo groß als jene. Die Menſchen
zeigen ſich wie die Pflanzen deſto mehr von einander ver-
ſchieden, je weiter jeder auf ſeine Art in der Ausbildung
kommt. Aber wie weit die letztere gehe und wie begren-
zet ſie ſey, erhellet zugleich aus demſelbigen Grundſatz,
der die Gleichheit ſelbſt beſtimmet. Wenn alle voͤllig
organiſirte und erwachſene Menſchen zu einer und derſel-
bigen Klaſſe ſelbſtthaͤtighandelnder gehoͤren, ſo giebt es
doch eine Stufenverſchiedenheit, die ihre großen Folgen
hat, wie die Gleichheit ſelbſt. Die phyſiſchen Verhaͤlt-
niſſe der Dinge ſind die erſten urſpruͤnglichen Gruͤnde zu
den moraliſchen und rechtlichen Verhaͤltniſſen. Aber ſo
wie die phyſiſche Gleichheit der Menſchen eine
Gleichheit der Rechte zur Folge hat: ſo muß auch
eine phyſiſche Ungleichheit in den Graden eine Ein-
ſchraͤnkung der moraliſchen und rechtlichen Gleichheit nach
ſich ziehen. Wenn die Gleichheit der Menſchen ver-
kannt wird, ſo wird Stolz, Menſchenverachtung, Un-
terdruͤckungsgeiſt und Tyranney genaͤhrt. Allein Miß-
kenntniß der Grenzen dieſer Gleichheit kann einen gewiſ-
ſen menſchenfeindlichen Fanatismus erzeugen, der in
ſeinen Folgen vielleicht eben ſo ſchaͤdlich werden moͤchte,
als jene entgegengeſetzten Fehler geworden ſind; wenns
nur moͤglich waͤre, daß er eben ſo leicht und ſo weit ſich
ausbreiten koͤnnte. Zum Gluͤck iſt dieß letztere nicht ſehr
zu beſorgen. Der ſtolze Gedanke, daß andere Men-
ſchen weniger werth ſind, als wir und die, welche uns
am naͤchſten und aͤhnlichſten ſind, findet im Ganzen
viel leichter und mehr Beyfall, als der Gedanke, daß
wir auch die Verachteteſten als unſers Gleichen zu be-
trachten haben. Und darum kann die alles unparthey-
iſch beurtheilende Vernunft geruhig daruͤber ſeyn, daß
man die Einſchraͤnkungen der Gleichheit nicht finden ſoll-
te, da die Eigenliebe ſolche mit Eifer aufſuchet. Jn-
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