Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Tetens, Johann Nicolas: Philosophische Versuche über die menschliche Natur und ihre Entwickelung. Bd. 2. Leipzig, 1777.

Bild:
<< vorherige Seite

und Entwickelung des Menschen.
in Bewegung setzen, geringe und, wie ihre Bedürfnisse,
einfacher sind.

Und auch die thätige Kraft der Seele, wodurch
die Bewegungen des Körpers regiert werden, muß bey
ihnen keine geringere Stärke haben, als bey den kulti-
virtesten Menschen. Beweise davon sind ihre unnach-
ahmlichen Fertigkeiten im Laufen, Springen, Schwim-
men, Werfen und dergleichen. Es ist also offenbar,
daß kein Grundvermögen der Seele bey ihnen unentwi-
ckelt geblieben sey. Jedes derselben ist zu einem Gra-
de von Umfang und Stärke gelanget. So zeigt sichs
bey ihrem Gefühl, bey ihrer vorstellenden Kraft, ihrer
Denkkraft, ihrem thätigen Vermögen zu handeln. Al-
les ist entwickelt und gewachsen. Eben so wenig fehlet
ihnen Aufmerksamkeit auf sinnliche Sachen, die sie be-
arbeiten, und auf ihre Geschäfte. Also auch das Ver-
mögen nicht, die Reflexion bey Sachen länger und
anhaltender zu beschäfftigen.

Unter den äußern Sinnen der Menschen scheinen in-
dessen der Geschmack und das körperliche Gefühl bey
den Wilden und Barbaren am schwächsten zu seyn. Man
hat sie gegen die grausamsten Qualen unempfindlich ge-
funden. Dieß mag eine Stärke im Körper zum Grunde
haben; aber es ist doch eine allzugroße Abhärtung, wel-
che nothwendig das Selbstgefühl der Seele verhindern
muß die nöthige Feinheit zu erlangen, wodurch es die hö-
hern Seelenkräfte zur Thätigkeit reizet. Die zu große
Empfindlichkeit des Körpers ist zwar auf der einen Sei-
te auch ein Hinderniß, das die Seele nicht stark werden
läßt; aber auf der andern verträgt sich eine große Unem-
pfindlichkeit eben so wenig mit der Ausbreitung der Ver-
nunft. Soll das innere Gefühl, und besonders dasjeni-
ge Gefühl der Vorstellungen und der Verhältnisse, wel-
ches das Unterscheidungsvermögen und die höhere Denk-
kraft erwecket, zu einiger Lebhastigkeit kommen, so ist

ein
U u 4

und Entwickelung des Menſchen.
in Bewegung ſetzen, geringe und, wie ihre Beduͤrfniſſe,
einfacher ſind.

Und auch die thaͤtige Kraft der Seele, wodurch
die Bewegungen des Koͤrpers regiert werden, muß bey
ihnen keine geringere Staͤrke haben, als bey den kulti-
virteſten Menſchen. Beweiſe davon ſind ihre unnach-
ahmlichen Fertigkeiten im Laufen, Springen, Schwim-
men, Werfen und dergleichen. Es iſt alſo offenbar,
daß kein Grundvermoͤgen der Seele bey ihnen unentwi-
ckelt geblieben ſey. Jedes derſelben iſt zu einem Gra-
de von Umfang und Staͤrke gelanget. So zeigt ſichs
bey ihrem Gefuͤhl, bey ihrer vorſtellenden Kraft, ihrer
Denkkraft, ihrem thaͤtigen Vermoͤgen zu handeln. Al-
les iſt entwickelt und gewachſen. Eben ſo wenig fehlet
ihnen Aufmerkſamkeit auf ſinnliche Sachen, die ſie be-
arbeiten, und auf ihre Geſchaͤfte. Alſo auch das Ver-
moͤgen nicht, die Reflexion bey Sachen laͤnger und
anhaltender zu beſchaͤfftigen.

Unter den aͤußern Sinnen der Menſchen ſcheinen in-
deſſen der Geſchmack und das koͤrperliche Gefuͤhl bey
den Wilden und Barbaren am ſchwaͤchſten zu ſeyn. Man
hat ſie gegen die grauſamſten Qualen unempfindlich ge-
funden. Dieß mag eine Staͤrke im Koͤrper zum Grunde
haben; aber es iſt doch eine allzugroße Abhaͤrtung, wel-
che nothwendig das Selbſtgefuͤhl der Seele verhindern
muß die noͤthige Feinheit zu erlangen, wodurch es die hoͤ-
hern Seelenkraͤfte zur Thaͤtigkeit reizet. Die zu große
Empfindlichkeit des Koͤrpers iſt zwar auf der einen Sei-
te auch ein Hinderniß, das die Seele nicht ſtark werden
laͤßt; aber auf der andern vertraͤgt ſich eine große Unem-
pfindlichkeit eben ſo wenig mit der Ausbreitung der Ver-
nunft. Soll das innere Gefuͤhl, und beſonders dasjeni-
ge Gefuͤhl der Vorſtellungen und der Verhaͤltniſſe, wel-
ches das Unterſcheidungsvermoͤgen und die hoͤhere Denk-
kraft erwecket, zu einiger Lebhaſtigkeit kommen, ſo iſt

ein
U u 4
<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <div n="2">
          <div n="3">
            <div n="4">
              <p><pb facs="#f0709" n="679"/><fw place="top" type="header"><hi rendition="#b">und Entwickelung des Men&#x017F;chen.</hi></fw><lb/>
in Bewegung &#x017F;etzen, geringe und, wie ihre Bedu&#x0364;rfni&#x017F;&#x017F;e,<lb/>
einfacher &#x017F;ind.</p><lb/>
              <p>Und auch die <hi rendition="#fr">tha&#x0364;tige Kraft</hi> der Seele, wodurch<lb/>
die Bewegungen des Ko&#x0364;rpers regiert werden, muß bey<lb/>
ihnen keine geringere Sta&#x0364;rke haben, als bey den kulti-<lb/>
virte&#x017F;ten Men&#x017F;chen. Bewei&#x017F;e davon &#x017F;ind ihre unnach-<lb/>
ahmlichen Fertigkeiten im Laufen, Springen, Schwim-<lb/>
men, Werfen und dergleichen. Es i&#x017F;t al&#x017F;o offenbar,<lb/>
daß kein Grundvermo&#x0364;gen der Seele bey ihnen unentwi-<lb/>
ckelt geblieben &#x017F;ey. Jedes der&#x017F;elben i&#x017F;t zu einem Gra-<lb/>
de von Umfang und Sta&#x0364;rke gelanget. So zeigt &#x017F;ichs<lb/>
bey ihrem Gefu&#x0364;hl, bey ihrer vor&#x017F;tellenden Kraft, ihrer<lb/>
Denkkraft, ihrem tha&#x0364;tigen Vermo&#x0364;gen zu handeln. Al-<lb/>
les i&#x017F;t entwickelt und gewach&#x017F;en. Eben &#x017F;o wenig fehlet<lb/>
ihnen Aufmerk&#x017F;amkeit auf &#x017F;innliche Sachen, die &#x017F;ie be-<lb/>
arbeiten, und auf ihre Ge&#x017F;cha&#x0364;fte. Al&#x017F;o auch das Ver-<lb/>
mo&#x0364;gen nicht, die Reflexion bey Sachen la&#x0364;nger und<lb/>
anhaltender zu be&#x017F;cha&#x0364;fftigen.</p><lb/>
              <p>Unter den a&#x0364;ußern Sinnen der Men&#x017F;chen &#x017F;cheinen in-<lb/>
de&#x017F;&#x017F;en der Ge&#x017F;chmack und das ko&#x0364;rperliche Gefu&#x0364;hl bey<lb/>
den Wilden und Barbaren am &#x017F;chwa&#x0364;ch&#x017F;ten zu &#x017F;eyn. Man<lb/>
hat &#x017F;ie gegen die grau&#x017F;am&#x017F;ten Qualen unempfindlich ge-<lb/>
funden. Dieß mag eine Sta&#x0364;rke im Ko&#x0364;rper zum Grunde<lb/>
haben; aber es i&#x017F;t doch eine allzugroße Abha&#x0364;rtung, wel-<lb/>
che nothwendig das Selb&#x017F;tgefu&#x0364;hl der Seele verhindern<lb/>
muß die no&#x0364;thige Feinheit zu erlangen, wodurch es die ho&#x0364;-<lb/>
hern Seelenkra&#x0364;fte zur Tha&#x0364;tigkeit reizet. Die zu große<lb/>
Empfindlichkeit des Ko&#x0364;rpers i&#x017F;t zwar auf der einen Sei-<lb/>
te auch ein Hinderniß, das die Seele nicht &#x017F;tark werden<lb/>
la&#x0364;ßt; aber auf der andern vertra&#x0364;gt &#x017F;ich eine große Unem-<lb/>
pfindlichkeit eben &#x017F;o wenig mit der Ausbreitung der Ver-<lb/>
nunft. Soll das innere Gefu&#x0364;hl, und be&#x017F;onders dasjeni-<lb/>
ge Gefu&#x0364;hl der Vor&#x017F;tellungen und der Verha&#x0364;ltni&#x017F;&#x017F;e, wel-<lb/>
ches das Unter&#x017F;cheidungsvermo&#x0364;gen und die ho&#x0364;here Denk-<lb/>
kraft erwecket, zu einiger Lebha&#x017F;tigkeit kommen, &#x017F;o i&#x017F;t<lb/>
<fw place="bottom" type="sig">U u 4</fw><fw place="bottom" type="catch">ein</fw><lb/></p>
            </div>
          </div>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[679/0709] und Entwickelung des Menſchen. in Bewegung ſetzen, geringe und, wie ihre Beduͤrfniſſe, einfacher ſind. Und auch die thaͤtige Kraft der Seele, wodurch die Bewegungen des Koͤrpers regiert werden, muß bey ihnen keine geringere Staͤrke haben, als bey den kulti- virteſten Menſchen. Beweiſe davon ſind ihre unnach- ahmlichen Fertigkeiten im Laufen, Springen, Schwim- men, Werfen und dergleichen. Es iſt alſo offenbar, daß kein Grundvermoͤgen der Seele bey ihnen unentwi- ckelt geblieben ſey. Jedes derſelben iſt zu einem Gra- de von Umfang und Staͤrke gelanget. So zeigt ſichs bey ihrem Gefuͤhl, bey ihrer vorſtellenden Kraft, ihrer Denkkraft, ihrem thaͤtigen Vermoͤgen zu handeln. Al- les iſt entwickelt und gewachſen. Eben ſo wenig fehlet ihnen Aufmerkſamkeit auf ſinnliche Sachen, die ſie be- arbeiten, und auf ihre Geſchaͤfte. Alſo auch das Ver- moͤgen nicht, die Reflexion bey Sachen laͤnger und anhaltender zu beſchaͤfftigen. Unter den aͤußern Sinnen der Menſchen ſcheinen in- deſſen der Geſchmack und das koͤrperliche Gefuͤhl bey den Wilden und Barbaren am ſchwaͤchſten zu ſeyn. Man hat ſie gegen die grauſamſten Qualen unempfindlich ge- funden. Dieß mag eine Staͤrke im Koͤrper zum Grunde haben; aber es iſt doch eine allzugroße Abhaͤrtung, wel- che nothwendig das Selbſtgefuͤhl der Seele verhindern muß die noͤthige Feinheit zu erlangen, wodurch es die hoͤ- hern Seelenkraͤfte zur Thaͤtigkeit reizet. Die zu große Empfindlichkeit des Koͤrpers iſt zwar auf der einen Sei- te auch ein Hinderniß, das die Seele nicht ſtark werden laͤßt; aber auf der andern vertraͤgt ſich eine große Unem- pfindlichkeit eben ſo wenig mit der Ausbreitung der Ver- nunft. Soll das innere Gefuͤhl, und beſonders dasjeni- ge Gefuͤhl der Vorſtellungen und der Verhaͤltniſſe, wel- ches das Unterſcheidungsvermoͤgen und die hoͤhere Denk- kraft erwecket, zu einiger Lebhaſtigkeit kommen, ſo iſt ein U u 4

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
TCF (tokenisiert, serialisiert, lemmatisiert, normalisiert)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien im Double-Keying-Verfahren von Nicht-Muttersprachlern erfasst und in XML/TEI P5 nach DTA-Basisformat kodiert.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/tetens_versuche02_1777
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/tetens_versuche02_1777/709
Zitationshilfe: Tetens, Johann Nicolas: Philosophische Versuche über die menschliche Natur und ihre Entwickelung. Bd. 2. Leipzig, 1777, S. 679. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/tetens_versuche02_1777/709>, abgerufen am 19.05.2024.