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Tetens, Johann Nicolas: Philosophische Versuche über die menschliche Natur und ihre Entwickelung. Bd. 2. Leipzig, 1777.

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und Entwickelung des Menschen.
einer bestimmten Seite hin, entwickeln kann, was ohne
diese Werkzeuge nicht möglich wäre.

Wenn die Einrichtungen der Organisation nicht dazu
dienen, daß die durch sie und in ihnen wirkende Seele
ein wirksameres und so zu sagen größeres Wesen ist, als
ohne sie: so mögen sie noch genießbar seyn, wie die äus-
sern Gegenstände, und in so weit Güter und Vollkom-
menheiten für das empfindende Wesen; allein physische
absolute Realitäten des Thiers sind sie nicht. Wenn
der Mensch mit Flügeln und Federn versehen wäre und
mit dem Vermögen ohne Respiration zu leben, wie das
Kind vor der Geburt und der Fisch unterm Wasser:
so möchte dieß eine Vollkommenheit in der menschli-
chen Organisation mehr gewesen seyn, die uns zu Erd-
und Wasser-und Luftthieren zugleich gemacht hätte.
Allein es ist eine andere Frage, ob es einen Zuwachs
an Menschheit ausgemacht haben würde? Gewiß nicht,
wenn die Seele keine Vermögen hat, die sich zu dieser
Maschine gepaßt hätten, wodurch sie solche zu ihrer Er-
haltung, oder zu ihrer Vervollkommnung, hätte gebrau-
chen können. Das Menschengeschöpf möchte viel-
leicht vollkommener dadurch seyn, aber der Mensch nicht,
nicht einmal das Thier.

Jch sage das Geschöpf, welches Mensch ist, möch-
te ein vollkommneres Ding seyn, wenn es auch fliegen
und im Wasser leben könnte. Man kann auf den Ge-
danken kommen, daß es an einem thierischen Körper
Theile und Einrichtungen gebe, die nicht zum Gebrauch
des Thieres selbst gemacht sind, wenigstens nicht haupt-
sächlich dazu, sondern vielmehr für andere Wesen, für
Mitgeschöpfe. Jedes Thier besitzet Theile, die nicht
sowohl für das Jndividuum als vornehmlich für das
ganze Geschlecht sind. Die wir davon kennen, gerei-
chen freilich auch alle zugleich zur Vollkommenheit, oder
zum Wohl der Einzelnen selbst. Aber es kann doch

solche
II Theil. S s

und Entwickelung des Menſchen.
einer beſtimmten Seite hin, entwickeln kann, was ohne
dieſe Werkzeuge nicht moͤglich waͤre.

Wenn die Einrichtungen der Organiſation nicht dazu
dienen, daß die durch ſie und in ihnen wirkende Seele
ein wirkſameres und ſo zu ſagen groͤßeres Weſen iſt, als
ohne ſie: ſo moͤgen ſie noch genießbar ſeyn, wie die aͤuſ-
ſern Gegenſtaͤnde, und in ſo weit Guͤter und Vollkom-
menheiten fuͤr das empfindende Weſen; allein phyſiſche
abſolute Realitaͤten des Thiers ſind ſie nicht. Wenn
der Menſch mit Fluͤgeln und Federn verſehen waͤre und
mit dem Vermoͤgen ohne Reſpiration zu leben, wie das
Kind vor der Geburt und der Fiſch unterm Waſſer:
ſo moͤchte dieß eine Vollkommenheit in der menſchli-
chen Organiſation mehr geweſen ſeyn, die uns zu Erd-
und Waſſer-und Luftthieren zugleich gemacht haͤtte.
Allein es iſt eine andere Frage, ob es einen Zuwachs
an Menſchheit ausgemacht haben wuͤrde? Gewiß nicht,
wenn die Seele keine Vermoͤgen hat, die ſich zu dieſer
Maſchine gepaßt haͤtten, wodurch ſie ſolche zu ihrer Er-
haltung, oder zu ihrer Vervollkommnung, haͤtte gebrau-
chen koͤnnen. Das Menſchengeſchoͤpf moͤchte viel-
leicht vollkommener dadurch ſeyn, aber der Menſch nicht,
nicht einmal das Thier.

Jch ſage das Geſchoͤpf, welches Menſch iſt, moͤch-
te ein vollkommneres Ding ſeyn, wenn es auch fliegen
und im Waſſer leben koͤnnte. Man kann auf den Ge-
danken kommen, daß es an einem thieriſchen Koͤrper
Theile und Einrichtungen gebe, die nicht zum Gebrauch
des Thieres ſelbſt gemacht ſind, wenigſtens nicht haupt-
ſaͤchlich dazu, ſondern vielmehr fuͤr andere Weſen, fuͤr
Mitgeſchoͤpfe. Jedes Thier beſitzet Theile, die nicht
ſowohl fuͤr das Jndividuum als vornehmlich fuͤr das
ganze Geſchlecht ſind. Die wir davon kennen, gerei-
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zum Wohl der Einzelnen ſelbſt. Aber es kann doch

ſolche
II Theil. S s
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[641/0671] und Entwickelung des Menſchen. einer beſtimmten Seite hin, entwickeln kann, was ohne dieſe Werkzeuge nicht moͤglich waͤre. Wenn die Einrichtungen der Organiſation nicht dazu dienen, daß die durch ſie und in ihnen wirkende Seele ein wirkſameres und ſo zu ſagen groͤßeres Weſen iſt, als ohne ſie: ſo moͤgen ſie noch genießbar ſeyn, wie die aͤuſ- ſern Gegenſtaͤnde, und in ſo weit Guͤter und Vollkom- menheiten fuͤr das empfindende Weſen; allein phyſiſche abſolute Realitaͤten des Thiers ſind ſie nicht. Wenn der Menſch mit Fluͤgeln und Federn verſehen waͤre und mit dem Vermoͤgen ohne Reſpiration zu leben, wie das Kind vor der Geburt und der Fiſch unterm Waſſer: ſo moͤchte dieß eine Vollkommenheit in der menſchli- chen Organiſation mehr geweſen ſeyn, die uns zu Erd- und Waſſer-und Luftthieren zugleich gemacht haͤtte. Allein es iſt eine andere Frage, ob es einen Zuwachs an Menſchheit ausgemacht haben wuͤrde? Gewiß nicht, wenn die Seele keine Vermoͤgen hat, die ſich zu dieſer Maſchine gepaßt haͤtten, wodurch ſie ſolche zu ihrer Er- haltung, oder zu ihrer Vervollkommnung, haͤtte gebrau- chen koͤnnen. Das Menſchengeſchoͤpf moͤchte viel- leicht vollkommener dadurch ſeyn, aber der Menſch nicht, nicht einmal das Thier. Jch ſage das Geſchoͤpf, welches Menſch iſt, moͤch- te ein vollkommneres Ding ſeyn, wenn es auch fliegen und im Waſſer leben koͤnnte. Man kann auf den Ge- danken kommen, daß es an einem thieriſchen Koͤrper Theile und Einrichtungen gebe, die nicht zum Gebrauch des Thieres ſelbſt gemacht ſind, wenigſtens nicht haupt- ſaͤchlich dazu, ſondern vielmehr fuͤr andere Weſen, fuͤr Mitgeſchoͤpfe. Jedes Thier beſitzet Theile, die nicht ſowohl fuͤr das Jndividuum als vornehmlich fuͤr das ganze Geſchlecht ſind. Die wir davon kennen, gerei- chen freilich auch alle zugleich zur Vollkommenheit, oder zum Wohl der Einzelnen ſelbſt. Aber es kann doch ſolche II Theil. S s

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Zitationshilfe: Tetens, Johann Nicolas: Philosophische Versuche über die menschliche Natur und ihre Entwickelung. Bd. 2. Leipzig, 1777, S. 641. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/tetens_versuche02_1777/671>, abgerufen am 23.11.2024.