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Tetens, Johann Nicolas: Philosophische Versuche über die menschliche Natur und ihre Entwickelung. Bd. 2. Leipzig, 1777.

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XIV. Vers. Ueber die Perfektibilität
nimmt, läßt sich nicht viel sagen. Nach den wenigen
Datis zu urtheilen, die man hat, so müßte in den mei-
sten Fällen eine von den äußersten Stufen der Wildheit
herauskommen. Die Seele kann sich wenig entwickeln,
wenn der Mensch der Beyspiele an seines Gleichen be-
raubet ist. Es könnten sogar die körperlichen Vermö-
gen zurückbleiben, wenn die äußern Umstände darnach
seyn würden. Hat die Natur selbst für Speise und
Trank gesorgt, und macht die Wärme der Luft die Be-
deckung unnöthig: welche Triebfedern würden denn übrig
bleiben, sich auch nur im Laufen und Springen, Käm-
pfen und Vertheidigen zu üben, wenn nicht etwan die
wilden Thiere solches nothwendig machten? Dagegen
wo die Nahrung so mühsam gesucht werden muß, als
von Shelkirk auf der Jnsel Juan Fernandenz, da muß
der Körper gebraucht werden. Das außer aller mensch-
lichen Gesellschaft aufwachsende Kind könnte nie Thier-
pflanze, oder ein Bär-ein Schaf-ein Waldmensch wer-
den, wie es in einigen Beyspielen geworden ist. Es
ist bey einigen der ganz verwilderten Kinder bemerket,
daß sie wahnsinnig gewesen und also zu den vollständig
organisirten Jndividuen nicht haben gerechnet werden
können. Daher, könnte man glauben, lasse sich aus sol-
chen Beyspielen nicht schließen, daß die vollkommene
Anlage zum vernünftigen Menschen soweit ausarten
könne. Jch will bey allen Exempeln, die man gehabt
hat, diesen Zweifel gültig seyn lassen. Dennoch giebt
weder die Erfahrung, noch die Vernunft, einen Grund
an die Hand zu vermuthen, daß das innere Princip der
Seele bloß aus angeborner Thätigkeit so weit hervordrin-
gen sollte, daß es sich bis zur hohen Verstandeskraft
und zum Nachdenken erheben könnte. Diese Möglich-
keit scheinet auch bey den vorzüglichsten Jndividuen eine
Erdichtung zu seyn.

Als

XIV. Verſ. Ueber die Perfektibilitaͤt
nimmt, laͤßt ſich nicht viel ſagen. Nach den wenigen
Datis zu urtheilen, die man hat, ſo muͤßte in den mei-
ſten Faͤllen eine von den aͤußerſten Stufen der Wildheit
herauskommen. Die Seele kann ſich wenig entwickeln,
wenn der Menſch der Beyſpiele an ſeines Gleichen be-
raubet iſt. Es koͤnnten ſogar die koͤrperlichen Vermoͤ-
gen zuruͤckbleiben, wenn die aͤußern Umſtaͤnde darnach
ſeyn wuͤrden. Hat die Natur ſelbſt fuͤr Speiſe und
Trank geſorgt, und macht die Waͤrme der Luft die Be-
deckung unnoͤthig: welche Triebfedern wuͤrden denn uͤbrig
bleiben, ſich auch nur im Laufen und Springen, Kaͤm-
pfen und Vertheidigen zu uͤben, wenn nicht etwan die
wilden Thiere ſolches nothwendig machten? Dagegen
wo die Nahrung ſo muͤhſam geſucht werden muß, als
von Shelkirk auf der Jnſel Juan Fernandenz, da muß
der Koͤrper gebraucht werden. Das außer aller menſch-
lichen Geſellſchaft aufwachſende Kind koͤnnte nie Thier-
pflanze, oder ein Baͤr-ein Schaf-ein Waldmenſch wer-
den, wie es in einigen Beyſpielen geworden iſt. Es
iſt bey einigen der ganz verwilderten Kinder bemerket,
daß ſie wahnſinnig geweſen und alſo zu den vollſtaͤndig
organiſirten Jndividuen nicht haben gerechnet werden
koͤnnen. Daher, koͤnnte man glauben, laſſe ſich aus ſol-
chen Beyſpielen nicht ſchließen, daß die vollkommene
Anlage zum vernuͤnftigen Menſchen ſoweit ausarten
koͤnne. Jch will bey allen Exempeln, die man gehabt
hat, dieſen Zweifel guͤltig ſeyn laſſen. Dennoch giebt
weder die Erfahrung, noch die Vernunft, einen Grund
an die Hand zu vermuthen, daß das innere Princip der
Seele bloß aus angeborner Thaͤtigkeit ſo weit hervordrin-
gen ſollte, daß es ſich bis zur hohen Verſtandeskraft
und zum Nachdenken erheben koͤnnte. Dieſe Moͤglich-
keit ſcheinet auch bey den vorzuͤglichſten Jndividuen eine
Erdichtung zu ſeyn.

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[612/0642] XIV. Verſ. Ueber die Perfektibilitaͤt nimmt, laͤßt ſich nicht viel ſagen. Nach den wenigen Datis zu urtheilen, die man hat, ſo muͤßte in den mei- ſten Faͤllen eine von den aͤußerſten Stufen der Wildheit herauskommen. Die Seele kann ſich wenig entwickeln, wenn der Menſch der Beyſpiele an ſeines Gleichen be- raubet iſt. Es koͤnnten ſogar die koͤrperlichen Vermoͤ- gen zuruͤckbleiben, wenn die aͤußern Umſtaͤnde darnach ſeyn wuͤrden. Hat die Natur ſelbſt fuͤr Speiſe und Trank geſorgt, und macht die Waͤrme der Luft die Be- deckung unnoͤthig: welche Triebfedern wuͤrden denn uͤbrig bleiben, ſich auch nur im Laufen und Springen, Kaͤm- pfen und Vertheidigen zu uͤben, wenn nicht etwan die wilden Thiere ſolches nothwendig machten? Dagegen wo die Nahrung ſo muͤhſam geſucht werden muß, als von Shelkirk auf der Jnſel Juan Fernandenz, da muß der Koͤrper gebraucht werden. Das außer aller menſch- lichen Geſellſchaft aufwachſende Kind koͤnnte nie Thier- pflanze, oder ein Baͤr-ein Schaf-ein Waldmenſch wer- den, wie es in einigen Beyſpielen geworden iſt. Es iſt bey einigen der ganz verwilderten Kinder bemerket, daß ſie wahnſinnig geweſen und alſo zu den vollſtaͤndig organiſirten Jndividuen nicht haben gerechnet werden koͤnnen. Daher, koͤnnte man glauben, laſſe ſich aus ſol- chen Beyſpielen nicht ſchließen, daß die vollkommene Anlage zum vernuͤnftigen Menſchen ſoweit ausarten koͤnne. Jch will bey allen Exempeln, die man gehabt hat, dieſen Zweifel guͤltig ſeyn laſſen. Dennoch giebt weder die Erfahrung, noch die Vernunft, einen Grund an die Hand zu vermuthen, daß das innere Princip der Seele bloß aus angeborner Thaͤtigkeit ſo weit hervordrin- gen ſollte, daß es ſich bis zur hohen Verſtandeskraft und zum Nachdenken erheben koͤnnte. Dieſe Moͤglich- keit ſcheinet auch bey den vorzuͤglichſten Jndividuen eine Erdichtung zu ſeyn. Als

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Zitationshilfe: Tetens, Johann Nicolas: Philosophische Versuche über die menschliche Natur und ihre Entwickelung. Bd. 2. Leipzig, 1777, S. 612. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/tetens_versuche02_1777/642>, abgerufen am 22.11.2024.