Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Tetens, Johann Nicolas: Philosophische Versuche über die menschliche Natur und ihre Entwickelung. Bd. 2. Leipzig, 1777.

Bild:
<< vorherige Seite

XIV. Vers. Ueber die Perfektibilität
Gegenstände leitet, durch diese ihn besonders reizet und
übet, so giebt sie ja auch Veranlassungen, sein Vermö-
gen hervorzuziehen und vorzüglich zu entwickeln. Al-
lein so wie sie jetzo gemeiniglich noch ist, lehret die Er-
fahrung, daß sie keine Genies aus schwachen Köpfen
machen kann, noch thätige Seelen aus trägen Gemü-
thern. Jede Person vom Verstande, von Lebhaftigkeit
und Geistesstärke, hat allemal mehr sich selbst durch die
ihr vorgekommenen Veranlassungen ausgebildet, als
von der regelmäßigen Erziehung ihren Vorzug erhalten.
Aber man scheinet auch in unsern Schulen zur Zeit darauf
abzuzielen, daß die Natur in die Form komme, die man
ihr geben will, nicht aber so sehr, daß sie selbst an ihren
Kräften erhöhet werde.

Hierinn kann nun ohne Zweifel vieles gebessert wer-
den, wozu auch der Anfang schon gemacht wird. Wenn
die physische Erziehung zu der intellektuellen hinzukommt,
so wird sie mächtiger werden; allein dennoch nicht so
allmächtig, als Hr. Verdier zu glauben scheinet. Die
Kunst hat ihre engen Grenzen bey einem Wesen, bey
dem die Natur so wichtig ist, als der Mensch ist. Die
vollkommenste Erziehung wird nie aus ihm einen Engel
machen, so wie er bey der schlechtesten nie zum Thier
heruntersinket. Und es ist auch hier wohl möglich, daß
die Kunst sich zu viel eindringe und schädlich werde. Auf
einer Seite ist es freylich außer Zweifel, wie schon gesagt
ist, daß wenn die Erziehung sich aller äußern Ursachen,
die auf den Körper und auf die Sinne wirken von der
Geburt an bemächtigen könnte, so würde sie die Na-
tur unter ihre Gewalt bringen, und den Charakter der
Natur, was aber auch ihr äußerstes ist, unkenntlich
machen. Allein auf der andern Seite bestehet auch ih-
re größte Stärke fast allein nur darinn, daß sie relative
Geschicklichkeiten bildet. Die absoluten Vermögen müs-
sen sich größtentheils von selbst entwickeln; und da kann

die

XIV. Verſ. Ueber die Perfektibilitaͤt
Gegenſtaͤnde leitet, durch dieſe ihn beſonders reizet und
uͤbet, ſo giebt ſie ja auch Veranlaſſungen, ſein Vermoͤ-
gen hervorzuziehen und vorzuͤglich zu entwickeln. Al-
lein ſo wie ſie jetzo gemeiniglich noch iſt, lehret die Er-
fahrung, daß ſie keine Genies aus ſchwachen Koͤpfen
machen kann, noch thaͤtige Seelen aus traͤgen Gemuͤ-
thern. Jede Perſon vom Verſtande, von Lebhaftigkeit
und Geiſtesſtaͤrke, hat allemal mehr ſich ſelbſt durch die
ihr vorgekommenen Veranlaſſungen ausgebildet, als
von der regelmaͤßigen Erziehung ihren Vorzug erhalten.
Aber man ſcheinet auch in unſern Schulen zur Zeit darauf
abzuzielen, daß die Natur in die Form komme, die man
ihr geben will, nicht aber ſo ſehr, daß ſie ſelbſt an ihren
Kraͤften erhoͤhet werde.

Hierinn kann nun ohne Zweifel vieles gebeſſert wer-
den, wozu auch der Anfang ſchon gemacht wird. Wenn
die phyſiſche Erziehung zu der intellektuellen hinzukommt,
ſo wird ſie maͤchtiger werden; allein dennoch nicht ſo
allmaͤchtig, als Hr. Verdier zu glauben ſcheinet. Die
Kunſt hat ihre engen Grenzen bey einem Weſen, bey
dem die Natur ſo wichtig iſt, als der Menſch iſt. Die
vollkommenſte Erziehung wird nie aus ihm einen Engel
machen, ſo wie er bey der ſchlechteſten nie zum Thier
herunterſinket. Und es iſt auch hier wohl moͤglich, daß
die Kunſt ſich zu viel eindringe und ſchaͤdlich werde. Auf
einer Seite iſt es freylich außer Zweifel, wie ſchon geſagt
iſt, daß wenn die Erziehung ſich aller aͤußern Urſachen,
die auf den Koͤrper und auf die Sinne wirken von der
Geburt an bemaͤchtigen koͤnnte, ſo wuͤrde ſie die Na-
tur unter ihre Gewalt bringen, und den Charakter der
Natur, was aber auch ihr aͤußerſtes iſt, unkenntlich
machen. Allein auf der andern Seite beſtehet auch ih-
re groͤßte Staͤrke faſt allein nur darinn, daß ſie relative
Geſchicklichkeiten bildet. Die abſoluten Vermoͤgen muͤſ-
ſen ſich groͤßtentheils von ſelbſt entwickeln; und da kann

die
<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <div n="2">
          <div n="3">
            <div n="4">
              <p><pb facs="#f0634" n="604"/><fw place="top" type="header"><hi rendition="#b"><hi rendition="#aq">XIV.</hi> Ver&#x017F;. Ueber die Perfektibilita&#x0364;t</hi></fw><lb/>
Gegen&#x017F;ta&#x0364;nde leitet, durch die&#x017F;e ihn be&#x017F;onders reizet und<lb/>
u&#x0364;bet, &#x017F;o giebt &#x017F;ie ja auch Veranla&#x017F;&#x017F;ungen, &#x017F;ein Vermo&#x0364;-<lb/>
gen hervorzuziehen und vorzu&#x0364;glich zu entwickeln. Al-<lb/>
lein &#x017F;o wie &#x017F;ie jetzo gemeiniglich noch i&#x017F;t, lehret die Er-<lb/>
fahrung, daß &#x017F;ie keine Genies aus &#x017F;chwachen Ko&#x0364;pfen<lb/>
machen kann, noch tha&#x0364;tige Seelen aus tra&#x0364;gen Gemu&#x0364;-<lb/>
thern. Jede Per&#x017F;on vom Ver&#x017F;tande, von Lebhaftigkeit<lb/>
und Gei&#x017F;tes&#x017F;ta&#x0364;rke, hat allemal mehr &#x017F;ich &#x017F;elb&#x017F;t durch die<lb/>
ihr vorgekommenen Veranla&#x017F;&#x017F;ungen ausgebildet, als<lb/>
von der regelma&#x0364;ßigen Erziehung ihren Vorzug erhalten.<lb/>
Aber man &#x017F;cheinet auch in un&#x017F;ern Schulen zur Zeit darauf<lb/>
abzuzielen, daß die Natur in die Form komme, die man<lb/>
ihr geben will, nicht aber &#x017F;o &#x017F;ehr, daß &#x017F;ie &#x017F;elb&#x017F;t an ihren<lb/>
Kra&#x0364;ften erho&#x0364;het werde.</p><lb/>
              <p>Hierinn kann nun ohne Zweifel vieles gebe&#x017F;&#x017F;ert wer-<lb/>
den, wozu auch der Anfang &#x017F;chon gemacht wird. Wenn<lb/>
die phy&#x017F;i&#x017F;che Erziehung zu der intellektuellen hinzukommt,<lb/>
&#x017F;o wird &#x017F;ie ma&#x0364;chtiger werden; allein dennoch nicht &#x017F;o<lb/>
allma&#x0364;chtig, als Hr. <hi rendition="#fr">Verdier</hi> zu glauben &#x017F;cheinet. Die<lb/>
Kun&#x017F;t hat ihre engen Grenzen bey einem We&#x017F;en, bey<lb/>
dem die Natur &#x017F;o wichtig i&#x017F;t, als der Men&#x017F;ch i&#x017F;t. Die<lb/>
vollkommen&#x017F;te Erziehung wird nie aus ihm einen Engel<lb/>
machen, &#x017F;o wie er bey der &#x017F;chlechte&#x017F;ten nie zum Thier<lb/>
herunter&#x017F;inket. Und es i&#x017F;t auch hier wohl mo&#x0364;glich, daß<lb/>
die Kun&#x017F;t &#x017F;ich zu viel eindringe und &#x017F;cha&#x0364;dlich werde. Auf<lb/>
einer Seite i&#x017F;t es freylich außer Zweifel, wie &#x017F;chon ge&#x017F;agt<lb/>
i&#x017F;t, daß wenn die Erziehung &#x017F;ich aller a&#x0364;ußern Ur&#x017F;achen,<lb/>
die auf den Ko&#x0364;rper und auf die Sinne wirken von der<lb/>
Geburt an bema&#x0364;chtigen ko&#x0364;nnte, &#x017F;o wu&#x0364;rde &#x017F;ie die Na-<lb/>
tur unter ihre Gewalt bringen, und den Charakter der<lb/>
Natur, was aber auch ihr a&#x0364;ußer&#x017F;tes i&#x017F;t, unkenntlich<lb/>
machen. Allein auf der andern Seite be&#x017F;tehet auch ih-<lb/>
re gro&#x0364;ßte Sta&#x0364;rke fa&#x017F;t allein nur darinn, daß &#x017F;ie relative<lb/>
Ge&#x017F;chicklichkeiten bildet. Die ab&#x017F;oluten Vermo&#x0364;gen mu&#x0364;&#x017F;-<lb/>
&#x017F;en &#x017F;ich gro&#x0364;ßtentheils von &#x017F;elb&#x017F;t entwickeln; und da kann<lb/>
<fw place="bottom" type="catch">die</fw><lb/></p>
            </div>
          </div>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[604/0634] XIV. Verſ. Ueber die Perfektibilitaͤt Gegenſtaͤnde leitet, durch dieſe ihn beſonders reizet und uͤbet, ſo giebt ſie ja auch Veranlaſſungen, ſein Vermoͤ- gen hervorzuziehen und vorzuͤglich zu entwickeln. Al- lein ſo wie ſie jetzo gemeiniglich noch iſt, lehret die Er- fahrung, daß ſie keine Genies aus ſchwachen Koͤpfen machen kann, noch thaͤtige Seelen aus traͤgen Gemuͤ- thern. Jede Perſon vom Verſtande, von Lebhaftigkeit und Geiſtesſtaͤrke, hat allemal mehr ſich ſelbſt durch die ihr vorgekommenen Veranlaſſungen ausgebildet, als von der regelmaͤßigen Erziehung ihren Vorzug erhalten. Aber man ſcheinet auch in unſern Schulen zur Zeit darauf abzuzielen, daß die Natur in die Form komme, die man ihr geben will, nicht aber ſo ſehr, daß ſie ſelbſt an ihren Kraͤften erhoͤhet werde. Hierinn kann nun ohne Zweifel vieles gebeſſert wer- den, wozu auch der Anfang ſchon gemacht wird. Wenn die phyſiſche Erziehung zu der intellektuellen hinzukommt, ſo wird ſie maͤchtiger werden; allein dennoch nicht ſo allmaͤchtig, als Hr. Verdier zu glauben ſcheinet. Die Kunſt hat ihre engen Grenzen bey einem Weſen, bey dem die Natur ſo wichtig iſt, als der Menſch iſt. Die vollkommenſte Erziehung wird nie aus ihm einen Engel machen, ſo wie er bey der ſchlechteſten nie zum Thier herunterſinket. Und es iſt auch hier wohl moͤglich, daß die Kunſt ſich zu viel eindringe und ſchaͤdlich werde. Auf einer Seite iſt es freylich außer Zweifel, wie ſchon geſagt iſt, daß wenn die Erziehung ſich aller aͤußern Urſachen, die auf den Koͤrper und auf die Sinne wirken von der Geburt an bemaͤchtigen koͤnnte, ſo wuͤrde ſie die Na- tur unter ihre Gewalt bringen, und den Charakter der Natur, was aber auch ihr aͤußerſtes iſt, unkenntlich machen. Allein auf der andern Seite beſtehet auch ih- re groͤßte Staͤrke faſt allein nur darinn, daß ſie relative Geſchicklichkeiten bildet. Die abſoluten Vermoͤgen muͤſ- ſen ſich groͤßtentheils von ſelbſt entwickeln; und da kann die

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien im Double-Keying-Verfahren von Nicht-Muttersprachlern erfasst und in XML/TEI P5 nach DTA-Basisformat kodiert.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/tetens_versuche02_1777
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/tetens_versuche02_1777/634
Zitationshilfe: Tetens, Johann Nicolas: Philosophische Versuche über die menschliche Natur und ihre Entwickelung. Bd. 2. Leipzig, 1777, S. 604. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/tetens_versuche02_1777/634>, abgerufen am 23.11.2024.