und so auf die Seele des Kindes in jedem Grade wirk- sam macht, wie man es haben will: so kann freylich die Erziehung Herr über die Natur werden, welche der vereinigten Macht aller dieser Ursachen nachgeben muß. Sie wird sich dennoch darinn beweisen, daß sie die Ar- beit hier oder dorten durch ihre Widersetzlichkeit schwe- rer macht. Aber ist eine solche künstliche Zusammen- ordnung aller äußern Ursachen möglich? Kann die Kunst auch jemals Herr über die Zufälle werden, die den Sinnen täglich vorkommen und die Muskeln rei- zen? Wie will man verwehren, daß ein Kind nichts mehr und nichts weniger und nichts anders sieht, hö- ret u. s. w. als die Kunst es will. Lobenswerth ist die Absicht des Hrn. Verdier und anderer, die daran ar- beiten. Es ist außer Zweifel, daß sehr vieles geschehen kann. Nur ist zu bedenken, daß auf der andern Seite auch die Kunst in eine schädliche Künsteley übertrieben werden kann. Es giebt hiebey ein vielleicht schwer zu findendes Maß. Und wir haben bey allen unsern Pla- nen, die wir entwerfen, einen zu großen Hang zum Ein- seitigen. Wir erreichen vielleicht unsere Absicht, und wir erreichen etwas gutes; aber wir verfehlen auch wich- tigere Vortheile auf der andern Seite. Jndessen wür- den wir hierüber bestimmtere Einsichten erlangen, wenn wir die Wirksamkeit der bildenden äußern Ursachen nä- her, und jedweder für sich, zu bestimmen im Stande wären.
4.
Da die individuellen Naturen der Kinder unter- schieden sind, einige empfindlicher und beugsamer, an- dere träger und ungelenksamer sind: so kann auch die Wirkung, welche die Umstände, das Beyspiel und der Unterricht haben, nicht bey allen von gleicher Stärke seyn. Jndessen ließe sich doch ein gewisses mittleres
Maß
XIV. Verſ. Ueber die Perfektibilitaͤt
und ſo auf die Seele des Kindes in jedem Grade wirk- ſam macht, wie man es haben will: ſo kann freylich die Erziehung Herr uͤber die Natur werden, welche der vereinigten Macht aller dieſer Urſachen nachgeben muß. Sie wird ſich dennoch darinn beweiſen, daß ſie die Ar- beit hier oder dorten durch ihre Widerſetzlichkeit ſchwe- rer macht. Aber iſt eine ſolche kuͤnſtliche Zuſammen- ordnung aller aͤußern Urſachen moͤglich? Kann die Kunſt auch jemals Herr uͤber die Zufaͤlle werden, die den Sinnen taͤglich vorkommen und die Muskeln rei- zen? Wie will man verwehren, daß ein Kind nichts mehr und nichts weniger und nichts anders ſieht, hoͤ- ret u. ſ. w. als die Kunſt es will. Lobenswerth iſt die Abſicht des Hrn. Verdier und anderer, die daran ar- beiten. Es iſt außer Zweifel, daß ſehr vieles geſchehen kann. Nur iſt zu bedenken, daß auf der andern Seite auch die Kunſt in eine ſchaͤdliche Kuͤnſteley uͤbertrieben werden kann. Es giebt hiebey ein vielleicht ſchwer zu findendes Maß. Und wir haben bey allen unſern Pla- nen, die wir entwerfen, einen zu großen Hang zum Ein- ſeitigen. Wir erreichen vielleicht unſere Abſicht, und wir erreichen etwas gutes; aber wir verfehlen auch wich- tigere Vortheile auf der andern Seite. Jndeſſen wuͤr- den wir hieruͤber beſtimmtere Einſichten erlangen, wenn wir die Wirkſamkeit der bildenden aͤußern Urſachen naͤ- her, und jedweder fuͤr ſich, zu beſtimmen im Stande waͤren.
4.
Da die individuellen Naturen der Kinder unter- ſchieden ſind, einige empfindlicher und beugſamer, an- dere traͤger und ungelenkſamer ſind: ſo kann auch die Wirkung, welche die Umſtaͤnde, das Beyſpiel und der Unterricht haben, nicht bey allen von gleicher Staͤrke ſeyn. Jndeſſen ließe ſich doch ein gewiſſes mittleres
Maß
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XIV. Verſ. Ueber die Perfektibilitaͤt
und ſo auf die Seele des Kindes in jedem Grade wirk-
ſam macht, wie man es haben will: ſo kann freylich
die Erziehung Herr uͤber die Natur werden, welche der
vereinigten Macht aller dieſer Urſachen nachgeben muß.
Sie wird ſich dennoch darinn beweiſen, daß ſie die Ar-
beit hier oder dorten durch ihre Widerſetzlichkeit ſchwe-
rer macht. Aber iſt eine ſolche kuͤnſtliche Zuſammen-
ordnung aller aͤußern Urſachen moͤglich? Kann die
Kunſt auch jemals Herr uͤber die Zufaͤlle werden, die
den Sinnen taͤglich vorkommen und die Muskeln rei-
zen? Wie will man verwehren, daß ein Kind nichts
mehr und nichts weniger und nichts anders ſieht, hoͤ-
ret u. ſ. w. als die Kunſt es will. Lobenswerth iſt die
Abſicht des Hrn. Verdier und anderer, die daran ar-
beiten. Es iſt außer Zweifel, daß ſehr vieles geſchehen
kann. Nur iſt zu bedenken, daß auf der andern Seite
auch die Kunſt in eine ſchaͤdliche Kuͤnſteley uͤbertrieben
werden kann. Es giebt hiebey ein vielleicht ſchwer zu
findendes Maß. Und wir haben bey allen unſern Pla-
nen, die wir entwerfen, einen zu großen Hang zum Ein-
ſeitigen. Wir erreichen vielleicht unſere Abſicht, und
wir erreichen etwas gutes; aber wir verfehlen auch wich-
tigere Vortheile auf der andern Seite. Jndeſſen wuͤr-
den wir hieruͤber beſtimmtere Einſichten erlangen, wenn
wir die Wirkſamkeit der bildenden aͤußern Urſachen naͤ-
her, und jedweder fuͤr ſich, zu beſtimmen im Stande
waͤren.
4.
Da die individuellen Naturen der Kinder unter-
ſchieden ſind, einige empfindlicher und beugſamer, an-
dere traͤger und ungelenkſamer ſind: ſo kann auch die
Wirkung, welche die Umſtaͤnde, das Beyſpiel und der
Unterricht haben, nicht bey allen von gleicher Staͤrke
ſeyn. Jndeſſen ließe ſich doch ein gewiſſes mittleres
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Tetens, Johann Nicolas: Philosophische Versuche über die menschliche Natur und ihre Entwickelung. Bd. 2. Leipzig, 1777, S. 596. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/tetens_versuche02_1777/626>, abgerufen am 21.11.2024.
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