Tetens, Johann Nicolas: Philosophische Versuche über die menschliche Natur und ihre Entwickelung. Bd. 2. Leipzig, 1777.und Entwickelung des Menschen. wenn so oft falsch raisoniret, die wahre Ursache verfehlet,oder doch die Größe ihres Einflusses verkannt wird. Dieß wird so öfterer geschehen, wo man die Gründe der Den- kungsarten, der Staatsverfassungen, der Gesetze, der Sitten, bey ganzen Völkern zu bestimmen gesucht und allgemeine Aussprüche darüber gewagt hat. Montes- quieu fand die Ursachen von allen diesen in dem Klima, und glaubte sie darinn fast allein zu finden. Andere su- chen den Grund von der Denkungsart und den Sitten in der Staatsverfassung. Einige schreiben mehr der Anlage der Natur zu. Andere leiten alles von den Um- ständen und der Erziehung ab. Eine Nation soll ta- pfer von Natur seyn, die andere feig; und dieß soll man finden, wenn man Wilde gegen Wilde, oder unpoli- zirte oder halb polizirte gegen ähnliche hält, z. B. die Bewohner einer Südseeinsel gegen die Bewohner einer andern. Eine Nation hat einen unüberwindlichen Hang zur Unabhängigkeit; die andere beugt gerne ihren Na- cken ins Joch: Bey dieser findet sich eine uneingeschränk- te Gastfreyheit, bey der andern tödtender Haß gegen Fremde, als ein Nationalcharakter, oder wird vielmehr dafür von einigen gehalten. Home findet darinn eine angeborne Verschiedenheit.*) Wie unrichtig wird nicht oft *) Einige von den Neuseeländern blieben, bey dem Anblick
des engländischen Schiffes, aus Furchtsamkeit in der Ferne; andere näherten sich und fingen sogleich Feind- seligkeiten an, sobald sie die Fremden ansichtig wurden. Ein anderer wandte nicht die geringste Aufmerksamkeit auf sie. Dagegen kamen andere ohne Einladung mit der vertrautesten und freundschaftlichsten Miene an Bord. Solche verschiedene Begegnung widerfuhr den Englän- dern auch an andern Küsten. (Neueste Seereisen zter Theil.) Diese einzige Beobachtung ist hinreichend zu zeigen, wie wenig Hr. Home berechtiget gewesen, aus dem Betragen verschiedener Wilden gegen Fremde ei- nen und Entwickelung des Menſchen. wenn ſo oft falſch raiſoniret, die wahre Urſache verfehlet,oder doch die Groͤße ihres Einfluſſes verkannt wird. Dieß wird ſo oͤfterer geſchehen, wo man die Gruͤnde der Den- kungsarten, der Staatsverfaſſungen, der Geſetze, der Sitten, bey ganzen Voͤlkern zu beſtimmen geſucht und allgemeine Ausſpruͤche daruͤber gewagt hat. Montes- quieu fand die Urſachen von allen dieſen in dem Klima, und glaubte ſie darinn faſt allein zu finden. Andere ſu- chen den Grund von der Denkungsart und den Sitten in der Staatsverfaſſung. Einige ſchreiben mehr der Anlage der Natur zu. Andere leiten alles von den Um- ſtaͤnden und der Erziehung ab. Eine Nation ſoll ta- pfer von Natur ſeyn, die andere feig; und dieß ſoll man finden, wenn man Wilde gegen Wilde, oder unpoli- zirte oder halb polizirte gegen aͤhnliche haͤlt, z. B. die Bewohner einer Suͤdſeeinſel gegen die Bewohner einer andern. Eine Nation hat einen unuͤberwindlichen Hang zur Unabhaͤngigkeit; die andere beugt gerne ihren Na- cken ins Joch: Bey dieſer findet ſich eine uneingeſchraͤnk- te Gaſtfreyheit, bey der andern toͤdtender Haß gegen Fremde, als ein Nationalcharakter, oder wird vielmehr dafuͤr von einigen gehalten. Home findet darinn eine angeborne Verſchiedenheit.*) Wie unrichtig wird nicht oft *) Einige von den Neuſeelaͤndern blieben, bey dem Anblick
des englaͤndiſchen Schiffes, aus Furchtſamkeit in der Ferne; andere naͤherten ſich und fingen ſogleich Feind- ſeligkeiten an, ſobald ſie die Fremden anſichtig wurden. Ein anderer wandte nicht die geringſte Aufmerkſamkeit auf ſie. Dagegen kamen andere ohne Einladung mit der vertrauteſten und freundſchaftlichſten Miene an Bord. Solche verſchiedene Begegnung widerfuhr den Englaͤn- dern auch an andern Kuͤſten. (Neueſte Seereiſen zter Theil.) Dieſe einzige Beobachtung iſt hinreichend zu zeigen, wie wenig Hr. Home berechtiget geweſen, aus dem Betragen verſchiedener Wilden gegen Fremde ei- nen <TEI> <text> <body> <div n="1"> <div n="2"> <div n="3"> <div n="4"> <p><pb facs="#f0617" n="587"/><fw place="top" type="header"><hi rendition="#b">und Entwickelung des Menſchen.</hi></fw><lb/> wenn ſo oft falſch raiſoniret, die wahre Urſache verfehlet,<lb/> oder doch die Groͤße ihres Einfluſſes verkannt wird. Dieß<lb/> wird ſo oͤfterer geſchehen, wo man die Gruͤnde der Den-<lb/> kungsarten, der Staatsverfaſſungen, der Geſetze, der<lb/> Sitten, bey ganzen Voͤlkern zu beſtimmen geſucht und<lb/> allgemeine Ausſpruͤche daruͤber gewagt hat. <hi rendition="#fr">Montes-<lb/> quieu</hi> fand die Urſachen von allen dieſen in dem Klima,<lb/> und glaubte ſie darinn faſt allein zu finden. Andere ſu-<lb/> chen den Grund von der Denkungsart und den Sitten<lb/> in der Staatsverfaſſung. Einige ſchreiben mehr der<lb/> Anlage der Natur zu. Andere leiten alles von den Um-<lb/> ſtaͤnden und der Erziehung ab. Eine Nation ſoll ta-<lb/> pfer von <hi rendition="#fr">Natur</hi> ſeyn, die andere feig; und dieß ſoll<lb/> man finden, wenn man Wilde gegen Wilde, oder unpoli-<lb/> zirte oder halb polizirte gegen aͤhnliche haͤlt, z. B. die<lb/> Bewohner einer Suͤdſeeinſel gegen die Bewohner einer<lb/> andern. Eine Nation hat einen unuͤberwindlichen Hang<lb/> zur Unabhaͤngigkeit; die andere beugt gerne ihren Na-<lb/> cken ins Joch: Bey dieſer findet ſich eine uneingeſchraͤnk-<lb/> te Gaſtfreyheit, bey der andern toͤdtender Haß gegen<lb/> Fremde, als ein Nationalcharakter, oder wird vielmehr<lb/> dafuͤr von einigen gehalten. <hi rendition="#fr">Home</hi> findet darinn eine<lb/> angeborne Verſchiedenheit.<note xml:id="F3" next="F4" place="foot" n="*)">Einige von den Neuſeelaͤndern blieben, bey dem Anblick<lb/> des englaͤndiſchen Schiffes, aus Furchtſamkeit in der<lb/> Ferne; andere naͤherten ſich und fingen ſogleich Feind-<lb/> ſeligkeiten an, ſobald ſie die Fremden anſichtig wurden.<lb/> Ein anderer wandte nicht die geringſte Aufmerkſamkeit<lb/> auf ſie. Dagegen kamen andere ohne Einladung mit<lb/> der vertrauteſten und freundſchaftlichſten Miene an Bord.<lb/> Solche verſchiedene Begegnung widerfuhr den Englaͤn-<lb/> dern auch an andern Kuͤſten. (Neueſte Seereiſen zter<lb/> Theil.) Dieſe einzige Beobachtung iſt hinreichend zu<lb/> zeigen, wie wenig Hr. <hi rendition="#fr">Home</hi> berechtiget geweſen, aus<lb/> dem Betragen verſchiedener Wilden gegen Fremde ei-<lb/> <fw place="bottom" type="catch">nen</fw></note> Wie unrichtig wird nicht<lb/> <fw place="bottom" type="catch">oft</fw><lb/></p> </div> </div> </div> </div> </body> </text> </TEI> [587/0617]
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oder doch die Groͤße ihres Einfluſſes verkannt wird. Dieß
wird ſo oͤfterer geſchehen, wo man die Gruͤnde der Den-
kungsarten, der Staatsverfaſſungen, der Geſetze, der
Sitten, bey ganzen Voͤlkern zu beſtimmen geſucht und
allgemeine Ausſpruͤche daruͤber gewagt hat. Montes-
quieu fand die Urſachen von allen dieſen in dem Klima,
und glaubte ſie darinn faſt allein zu finden. Andere ſu-
chen den Grund von der Denkungsart und den Sitten
in der Staatsverfaſſung. Einige ſchreiben mehr der
Anlage der Natur zu. Andere leiten alles von den Um-
ſtaͤnden und der Erziehung ab. Eine Nation ſoll ta-
pfer von Natur ſeyn, die andere feig; und dieß ſoll
man finden, wenn man Wilde gegen Wilde, oder unpoli-
zirte oder halb polizirte gegen aͤhnliche haͤlt, z. B. die
Bewohner einer Suͤdſeeinſel gegen die Bewohner einer
andern. Eine Nation hat einen unuͤberwindlichen Hang
zur Unabhaͤngigkeit; die andere beugt gerne ihren Na-
cken ins Joch: Bey dieſer findet ſich eine uneingeſchraͤnk-
te Gaſtfreyheit, bey der andern toͤdtender Haß gegen
Fremde, als ein Nationalcharakter, oder wird vielmehr
dafuͤr von einigen gehalten. Home findet darinn eine
angeborne Verſchiedenheit. *) Wie unrichtig wird nicht
oft
*) Einige von den Neuſeelaͤndern blieben, bey dem Anblick
des englaͤndiſchen Schiffes, aus Furchtſamkeit in der
Ferne; andere naͤherten ſich und fingen ſogleich Feind-
ſeligkeiten an, ſobald ſie die Fremden anſichtig wurden.
Ein anderer wandte nicht die geringſte Aufmerkſamkeit
auf ſie. Dagegen kamen andere ohne Einladung mit
der vertrauteſten und freundſchaftlichſten Miene an Bord.
Solche verſchiedene Begegnung widerfuhr den Englaͤn-
dern auch an andern Kuͤſten. (Neueſte Seereiſen zter
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