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Tetens, Johann Nicolas: Philosophische Versuche über die menschliche Natur und ihre Entwickelung. Bd. 2. Leipzig, 1777.

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XIV. Vers. Ueber die Perfektibilität
sten Jugend vieles beyträgt. Ferner gehen Gebrechen
und Krankheiten über, die dem Gefühl am meisten ge-
genwärtig sind und solches während der Zeugung leb-
haft rühren. Dagegen andere Besonderheiten der El-
tern, deren Wirkungen nicht ausnehmend empfunden,
oder lebhaft eingebildet werden, sich seltener fortpflanzen.

Hawkesworth hat, in der Geschichte der
neuesten Reisen nach der Südsee,
*) eine Bemer-
kung gemacht, die, da sie ohne Zweifel eine richtige Be-
obachtung ist, die Mitwirkung der Einbildungskraft
ungemein bestätiget. Wenn zween Engländer in ihrem
Vaterlande sich verheyrathen, und alsdenn nach den
Kolonien nach Westindien ziehen, so findet man an ih-
ren dorten erzeugten und gebornen Nachkommen die
charakteristische Farbe und Gesichtsbildung der Kreolen.
Kehren die Eltern in der Folge wieder nach ihrem Va-
terlande zurück, so wird man jene Merkmale bey den
Kindern, die sie hier zeugen, nicht antreffen. Und
dennoch ist gemeiniglich die Lebensart solcher Leute, zu
Hause und in der Fremde, dieselbige, daß fast nichts
mehr als der Unterschied der Luft, des Wassers und der
Lebensmittel, welche letztern doch auch größtentheils von
derselbigen Art bleiben, übrig ist, worinn man die Ur-
sache dieser Verschiedenheit an den Kindern suchen könn-
te, und sie schwerlich finden wird. Man erwäge hie-
bey, wie so oft in der physischen Lage der Eltern eine
viel größere Verschiedenheit vorgehe als diese, ohne daß
sich davon in den Kindern eine Wirkung offenbare: so
kann man es schwerlich in Abrede seyn, daß die er-
wähnten Unterscheidungsmerkmale in den Kindern den
äußern physischen Ursachen allein nicht zuzuschreiben sind.
Sollte es wohl zweifelhaft seyn, daß der tägliche An-
blick gewisser Menschengestalten der Phantasie Bilder

eindrücke,
*) Dritter Theil S. 391.

XIV. Verſ. Ueber die Perfektibilitaͤt
ſten Jugend vieles beytraͤgt. Ferner gehen Gebrechen
und Krankheiten uͤber, die dem Gefuͤhl am meiſten ge-
genwaͤrtig ſind und ſolches waͤhrend der Zeugung leb-
haft ruͤhren. Dagegen andere Beſonderheiten der El-
tern, deren Wirkungen nicht ausnehmend empfunden,
oder lebhaft eingebildet werden, ſich ſeltener fortpflanzen.

Hawkesworth hat, in der Geſchichte der
neueſten Reiſen nach der Suͤdſee,
*) eine Bemer-
kung gemacht, die, da ſie ohne Zweifel eine richtige Be-
obachtung iſt, die Mitwirkung der Einbildungskraft
ungemein beſtaͤtiget. Wenn zween Englaͤnder in ihrem
Vaterlande ſich verheyrathen, und alsdenn nach den
Kolonien nach Weſtindien ziehen, ſo findet man an ih-
ren dorten erzeugten und gebornen Nachkommen die
charakteriſtiſche Farbe und Geſichtsbildung der Kreolen.
Kehren die Eltern in der Folge wieder nach ihrem Va-
terlande zuruͤck, ſo wird man jene Merkmale bey den
Kindern, die ſie hier zeugen, nicht antreffen. Und
dennoch iſt gemeiniglich die Lebensart ſolcher Leute, zu
Hauſe und in der Fremde, dieſelbige, daß faſt nichts
mehr als der Unterſchied der Luft, des Waſſers und der
Lebensmittel, welche letztern doch auch groͤßtentheils von
derſelbigen Art bleiben, uͤbrig iſt, worinn man die Ur-
ſache dieſer Verſchiedenheit an den Kindern ſuchen koͤnn-
te, und ſie ſchwerlich finden wird. Man erwaͤge hie-
bey, wie ſo oft in der phyſiſchen Lage der Eltern eine
viel groͤßere Verſchiedenheit vorgehe als dieſe, ohne daß
ſich davon in den Kindern eine Wirkung offenbare: ſo
kann man es ſchwerlich in Abrede ſeyn, daß die er-
waͤhnten Unterſcheidungsmerkmale in den Kindern den
aͤußern phyſiſchen Urſachen allein nicht zuzuſchreiben ſind.
Sollte es wohl zweifelhaft ſeyn, daß der taͤgliche An-
blick gewiſſer Menſchengeſtalten der Phantaſie Bilder

eindruͤcke,
*) Dritter Theil S. 391.
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[578/0608] XIV. Verſ. Ueber die Perfektibilitaͤt ſten Jugend vieles beytraͤgt. Ferner gehen Gebrechen und Krankheiten uͤber, die dem Gefuͤhl am meiſten ge- genwaͤrtig ſind und ſolches waͤhrend der Zeugung leb- haft ruͤhren. Dagegen andere Beſonderheiten der El- tern, deren Wirkungen nicht ausnehmend empfunden, oder lebhaft eingebildet werden, ſich ſeltener fortpflanzen. Hawkesworth hat, in der Geſchichte der neueſten Reiſen nach der Suͤdſee, *) eine Bemer- kung gemacht, die, da ſie ohne Zweifel eine richtige Be- obachtung iſt, die Mitwirkung der Einbildungskraft ungemein beſtaͤtiget. Wenn zween Englaͤnder in ihrem Vaterlande ſich verheyrathen, und alsdenn nach den Kolonien nach Weſtindien ziehen, ſo findet man an ih- ren dorten erzeugten und gebornen Nachkommen die charakteriſtiſche Farbe und Geſichtsbildung der Kreolen. Kehren die Eltern in der Folge wieder nach ihrem Va- terlande zuruͤck, ſo wird man jene Merkmale bey den Kindern, die ſie hier zeugen, nicht antreffen. Und dennoch iſt gemeiniglich die Lebensart ſolcher Leute, zu Hauſe und in der Fremde, dieſelbige, daß faſt nichts mehr als der Unterſchied der Luft, des Waſſers und der Lebensmittel, welche letztern doch auch groͤßtentheils von derſelbigen Art bleiben, uͤbrig iſt, worinn man die Ur- ſache dieſer Verſchiedenheit an den Kindern ſuchen koͤnn- te, und ſie ſchwerlich finden wird. Man erwaͤge hie- bey, wie ſo oft in der phyſiſchen Lage der Eltern eine viel groͤßere Verſchiedenheit vorgehe als dieſe, ohne daß ſich davon in den Kindern eine Wirkung offenbare: ſo kann man es ſchwerlich in Abrede ſeyn, daß die er- waͤhnten Unterſcheidungsmerkmale in den Kindern den aͤußern phyſiſchen Urſachen allein nicht zuzuſchreiben ſind. Sollte es wohl zweifelhaft ſeyn, daß der taͤgliche An- blick gewiſſer Menſchengeſtalten der Phantaſie Bilder eindruͤcke, *) Dritter Theil S. 391.

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Zitationshilfe: Tetens, Johann Nicolas: Philosophische Versuche über die menschliche Natur und ihre Entwickelung. Bd. 2. Leipzig, 1777, S. 578. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/tetens_versuche02_1777/608>, abgerufen am 22.11.2024.