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Tetens, Johann Nicolas: Philosophische Versuche über die menschliche Natur und ihre Entwickelung. Bd. 2. Leipzig, 1777.

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und Entwickelung des Menschen.
wirke, ist, wie ich meine, nicht zweifelhaft. Ob sie
auch in der Folge nach der Empfängniß, in den ersten
Monaten der Schwangerschaft, etwas vermöge, und
insbesondere ob sie die Ursache der sogenannten Mutter-
mäler sey, ist wohl etwas zweifelhafter; obgleich auch
hier die Wahrheit in der Mitte zu liegen scheinet.
Wenn es nur allein auf das Wie hierbey ankäme,
wobey doch die mehresten Aerzte den meisten Anstoß ge-
funden haben: so deucht mich, die obige Analysis würde
zureichen die Möglichkeit im Allgemeinen zu begreifen.
Aber wieweit diese mächtige Bildungsursache im Men-
schen wirklich gehe, wie groß ihre Kraft, oder wo sie
begränzet ist? das müssen die Fakta bestimmen. Gleich-
wohl wird man doch ihren Einfluß bey der ersten Zeu-
gung des Kindes nicht verkennen. Und hiebey würde
das, was in Hinsicht der Pferde für unbezweifelt ge-
halten wird, einen analogischen Bestätigungsgrund ab-
geben.

Man wird in dieser Meinung, "daß die Einbil-
"dungskraft der Eltern bey der Zeugung einen Einfluß
"in die Bildung des Kindes, wenn nicht allemal habe,
"doch haben könne, und die meistenmale wirklich hat,"
noch mehr bestärkt, wenn man die verschiedenen körper-
lichen Beschaffenheiten, die am gewöhnlichsten auf die
Kinder übergehen, näher betrachtet, und mit den be-
kannten Gesetzen der Einbildungskraft vergleichet.
Denn eben solche Beschaffenheiten, welche am leichte-
sten übergehen, sind es auch, die am lebhaftesten em-
pfunden und am lebhaftesten reproducirt werden.
Was am öftersten und am leichtesten erblich wird, ist
die Gesichtsbildung und andere äußere Gestalten, die
in die Augen fallen. Hiernächst sind es auch Fehler in
der Aussprache, wie in einigen Familien das Unvermö-
gen den Buchstaben R auszusprechen; bey welchem letz-
tern denn nun freylich auch die Nachahmung in der er-

sten
II Theil. O o

und Entwickelung des Menſchen.
wirke, iſt, wie ich meine, nicht zweifelhaft. Ob ſie
auch in der Folge nach der Empfaͤngniß, in den erſten
Monaten der Schwangerſchaft, etwas vermoͤge, und
insbeſondere ob ſie die Urſache der ſogenannten Mutter-
maͤler ſey, iſt wohl etwas zweifelhafter; obgleich auch
hier die Wahrheit in der Mitte zu liegen ſcheinet.
Wenn es nur allein auf das Wie hierbey ankaͤme,
wobey doch die mehreſten Aerzte den meiſten Anſtoß ge-
funden haben: ſo deucht mich, die obige Analyſis wuͤrde
zureichen die Moͤglichkeit im Allgemeinen zu begreifen.
Aber wieweit dieſe maͤchtige Bildungsurſache im Men-
ſchen wirklich gehe, wie groß ihre Kraft, oder wo ſie
begraͤnzet iſt? das muͤſſen die Fakta beſtimmen. Gleich-
wohl wird man doch ihren Einfluß bey der erſten Zeu-
gung des Kindes nicht verkennen. Und hiebey wuͤrde
das, was in Hinſicht der Pferde fuͤr unbezweifelt ge-
halten wird, einen analogiſchen Beſtaͤtigungsgrund ab-
geben.

Man wird in dieſer Meinung, „daß die Einbil-
„dungskraft der Eltern bey der Zeugung einen Einfluß
„in die Bildung des Kindes, wenn nicht allemal habe,
„doch haben koͤnne, und die meiſtenmale wirklich hat,‟
noch mehr beſtaͤrkt, wenn man die verſchiedenen koͤrper-
lichen Beſchaffenheiten, die am gewoͤhnlichſten auf die
Kinder uͤbergehen, naͤher betrachtet, und mit den be-
kannten Geſetzen der Einbildungskraft vergleichet.
Denn eben ſolche Beſchaffenheiten, welche am leichte-
ſten uͤbergehen, ſind es auch, die am lebhafteſten em-
pfunden und am lebhafteſten reproducirt werden.
Was am oͤfterſten und am leichteſten erblich wird, iſt
die Geſichtsbildung und andere aͤußere Geſtalten, die
in die Augen fallen. Hiernaͤchſt ſind es auch Fehler in
der Ausſprache, wie in einigen Familien das Unvermoͤ-
gen den Buchſtaben R auszuſprechen; bey welchem letz-
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ſten
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[577/0607] und Entwickelung des Menſchen. wirke, iſt, wie ich meine, nicht zweifelhaft. Ob ſie auch in der Folge nach der Empfaͤngniß, in den erſten Monaten der Schwangerſchaft, etwas vermoͤge, und insbeſondere ob ſie die Urſache der ſogenannten Mutter- maͤler ſey, iſt wohl etwas zweifelhafter; obgleich auch hier die Wahrheit in der Mitte zu liegen ſcheinet. Wenn es nur allein auf das Wie hierbey ankaͤme, wobey doch die mehreſten Aerzte den meiſten Anſtoß ge- funden haben: ſo deucht mich, die obige Analyſis wuͤrde zureichen die Moͤglichkeit im Allgemeinen zu begreifen. Aber wieweit dieſe maͤchtige Bildungsurſache im Men- ſchen wirklich gehe, wie groß ihre Kraft, oder wo ſie begraͤnzet iſt? das muͤſſen die Fakta beſtimmen. Gleich- wohl wird man doch ihren Einfluß bey der erſten Zeu- gung des Kindes nicht verkennen. Und hiebey wuͤrde das, was in Hinſicht der Pferde fuͤr unbezweifelt ge- halten wird, einen analogiſchen Beſtaͤtigungsgrund ab- geben. Man wird in dieſer Meinung, „daß die Einbil- „dungskraft der Eltern bey der Zeugung einen Einfluß „in die Bildung des Kindes, wenn nicht allemal habe, „doch haben koͤnne, und die meiſtenmale wirklich hat,‟ noch mehr beſtaͤrkt, wenn man die verſchiedenen koͤrper- lichen Beſchaffenheiten, die am gewoͤhnlichſten auf die Kinder uͤbergehen, naͤher betrachtet, und mit den be- kannten Geſetzen der Einbildungskraft vergleichet. Denn eben ſolche Beſchaffenheiten, welche am leichte- ſten uͤbergehen, ſind es auch, die am lebhafteſten em- pfunden und am lebhafteſten reproducirt werden. Was am oͤfterſten und am leichteſten erblich wird, iſt die Geſichtsbildung und andere aͤußere Geſtalten, die in die Augen fallen. Hiernaͤchſt ſind es auch Fehler in der Ausſprache, wie in einigen Familien das Unvermoͤ- gen den Buchſtaben R auszuſprechen; bey welchem letz- tern denn nun freylich auch die Nachahmung in der er- ſten II Theil. O o

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Zitationshilfe: Tetens, Johann Nicolas: Philosophische Versuche über die menschliche Natur und ihre Entwickelung. Bd. 2. Leipzig, 1777, S. 577. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/tetens_versuche02_1777/607>, abgerufen am 22.11.2024.