mit einer großen Jntension wirket. Aber es folget daraus nicht, daß das entgegengesetzte Vermögen sehr schwach seyn müsse; nicht einmal ist es nothwendig, daß es in Vergleichung mit jenem geringe sey, ob es gleich bey den menschlichen Fertigkeiten wohl so ist. Noch weniger folget also, daß die gesammte handelnde Kraft schwächer sey, für sich nach seiner absoluten Größe ge- schätzet, als da, wo die Fertigkeit im Guten fehlet. Sollte der Erwachsene in der Tugend nicht noch eben die Geschicklichkeit besitzen Böses zu thun, welche er vorher besaß, da er mit den Versuchungen noch kämpfen mußte? Jene Geschicklichkeit kann jetzo noch größer seyn, als sie vorher war, unerachtet sie sich jetzo nicht reget. Er wirket mit einer moralischen Kraft, die doch wenigstens an der einen Seite, in so ferne sie aufs Gute gehet, größer ist, als bey dem schwachen Anfänger, wenn sie nicht auch an der entgegengesetzten zugleich es ist, wie sie doch seyn kann. Aber auch angenommen, daß die innere Seelengeschicklichkeit zum Bösen, -- alles das zusammen genommen, was dazu gehöret, -- durch die lange Uebung im Guten in etwas geschwächt worden sey, weil sie durch den Gebrauch nicht gestärkt worden ist, so folgt dennoch nicht, daß der Zuwachs an Selbst- thätigkeit an der andern Seite nicht die Abnahme an der entgegenstehenden übertreffen könne. Und dann würde doch noch die Fertigkeit im Guten eine wahre Seelen- größe seyn.
Es kann aber auch zweytens die Größe der Selbst- gewalt über sich, beziehungsweise geschätzet wer- den, in so ferne sie nämlich eine Selbstmacht über sich ist, in sensu diuiso, wie die Alten gesagt haben würden, nicht in so ferne sie eine Kraft ist, welche Selbst- macht besitzet, in sensu composito, wie ich sie vorher betrachtet habe. Alsdenn hänget ihre Größe nicht ab von den absoluten Größen der beiden entgegengesetz-
ten
XII. Verſuch. Ueber die Selbſtthaͤtigkeit
mit einer großen Jntenſion wirket. Aber es folget daraus nicht, daß das entgegengeſetzte Vermoͤgen ſehr ſchwach ſeyn muͤſſe; nicht einmal iſt es nothwendig, daß es in Vergleichung mit jenem geringe ſey, ob es gleich bey den menſchlichen Fertigkeiten wohl ſo iſt. Noch weniger folget alſo, daß die geſammte handelnde Kraft ſchwaͤcher ſey, fuͤr ſich nach ſeiner abſoluten Groͤße ge- ſchaͤtzet, als da, wo die Fertigkeit im Guten fehlet. Sollte der Erwachſene in der Tugend nicht noch eben die Geſchicklichkeit beſitzen Boͤſes zu thun, welche er vorher beſaß, da er mit den Verſuchungen noch kaͤmpfen mußte? Jene Geſchicklichkeit kann jetzo noch groͤßer ſeyn, als ſie vorher war, unerachtet ſie ſich jetzo nicht reget. Er wirket mit einer moraliſchen Kraft, die doch wenigſtens an der einen Seite, in ſo ferne ſie aufs Gute gehet, groͤßer iſt, als bey dem ſchwachen Anfaͤnger, wenn ſie nicht auch an der entgegengeſetzten zugleich es iſt, wie ſie doch ſeyn kann. Aber auch angenommen, daß die innere Seelengeſchicklichkeit zum Boͤſen, — alles das zuſammen genommen, was dazu gehoͤret, — durch die lange Uebung im Guten in etwas geſchwaͤcht worden ſey, weil ſie durch den Gebrauch nicht geſtaͤrkt worden iſt, ſo folgt dennoch nicht, daß der Zuwachs an Selbſt- thaͤtigkeit an der andern Seite nicht die Abnahme an der entgegenſtehenden uͤbertreffen koͤnne. Und dann wuͤrde doch noch die Fertigkeit im Guten eine wahre Seelen- groͤße ſeyn.
Es kann aber auch zweytens die Groͤße der Selbſt- gewalt uͤber ſich, beziehungsweiſe geſchaͤtzet wer- den, in ſo ferne ſie naͤmlich eine Selbſtmacht uͤber ſich iſt, in ſenſu diuiſo, wie die Alten geſagt haben wuͤrden, nicht in ſo ferne ſie eine Kraft iſt, welche Selbſt- macht beſitzet, in ſenſu compoſito, wie ich ſie vorher betrachtet habe. Alsdenn haͤnget ihre Groͤße nicht ab von den abſoluten Groͤßen der beiden entgegengeſetz-
ten
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XII. Verſuch. Ueber die Selbſtthaͤtigkeit
mit einer großen Jntenſion wirket. Aber es folget
daraus nicht, daß das entgegengeſetzte Vermoͤgen ſehr
ſchwach ſeyn muͤſſe; nicht einmal iſt es nothwendig, daß
es in Vergleichung mit jenem geringe ſey, ob es gleich
bey den menſchlichen Fertigkeiten wohl ſo iſt. Noch
weniger folget alſo, daß die geſammte handelnde Kraft
ſchwaͤcher ſey, fuͤr ſich nach ſeiner abſoluten Groͤße ge-
ſchaͤtzet, als da, wo die Fertigkeit im Guten fehlet.
Sollte der Erwachſene in der Tugend nicht noch eben die
Geſchicklichkeit beſitzen Boͤſes zu thun, welche er vorher
beſaß, da er mit den Verſuchungen noch kaͤmpfen mußte?
Jene Geſchicklichkeit kann jetzo noch groͤßer ſeyn, als ſie
vorher war, unerachtet ſie ſich jetzo nicht reget. Er
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an der einen Seite, in ſo ferne ſie aufs Gute gehet,
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nicht auch an der entgegengeſetzten zugleich es iſt, wie
ſie doch ſeyn kann. Aber auch angenommen, daß die
innere Seelengeſchicklichkeit zum Boͤſen, — alles das
zuſammen genommen, was dazu gehoͤret, — durch die
lange Uebung im Guten in etwas geſchwaͤcht worden
ſey, weil ſie durch den Gebrauch nicht geſtaͤrkt worden
iſt, ſo folgt dennoch nicht, daß der Zuwachs an Selbſt-
thaͤtigkeit an der andern Seite nicht die Abnahme an der
entgegenſtehenden uͤbertreffen koͤnne. Und dann wuͤrde
doch noch die Fertigkeit im Guten eine wahre Seelen-
groͤße ſeyn.
Es kann aber auch zweytens die Groͤße der Selbſt-
gewalt uͤber ſich, beziehungsweiſe geſchaͤtzet wer-
den, in ſo ferne ſie naͤmlich eine Selbſtmacht uͤber
ſich iſt, in ſenſu diuiſo, wie die Alten geſagt haben
wuͤrden, nicht in ſo ferne ſie eine Kraft iſt, welche Selbſt-
macht beſitzet, in ſenſu compoſito, wie ich ſie vorher
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Tetens, Johann Nicolas: Philosophische Versuche über die menschliche Natur und ihre Entwickelung. Bd. 2. Leipzig, 1777, S. 28. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/tetens_versuche02_1777/58>, abgerufen am 16.02.2025.
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