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Tetens, Johann Nicolas: Philosophische Versuche über die menschliche Natur und ihre Entwickelung. Bd. 2. Leipzig, 1777.

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und Entwickelung des Menschen.
Begriffe in die letztern wenig Einfluß haben. Die |Geo-
metrie schärfet die Vernunft, auch für Wissenschaften,
in denen keine geometrischen Begriffe vorkommen. Die
Reden des Cicero kann man lesen, wie sie der Mann
liest, der aus ihnen nur Worte und Redensarten in
sein Gedächtniß einträgt. Allein wer dem großen
Manne nachzudenken und nachzuempfinden weiß, in der
Anordnung und in der Verbindung der Begriffe, in dem
Vergleichen und in dem Bemerken ihrer mannichfaltigen
Beziehungen auf einander, und ihm also auch nicht blos
nachgehet, sondern auch gewissermaßen nachzumachen sich
bestrebet, der mag den ihm in der Folge ganz gleichgül-
tigen Jnhalt seiner Schriften vergessen, und nur we-
nig Latinität aus ihm behalten, und wird dennoch nicht
nur seine Ueberlegungskraft gestärket, sondern auch
überdieß einen Partikel von dem Geiste dieses Mannes
in sich abgeleitet fühlen, das ist: er wird Regungen, An-
wandlungen, Triebe und Bestrebungen in sich fühlen,
Sachen, die ihm vorkommen, auf eine ähnliche Art zu
behandeln, so sehr diese Sachen auch von denen, womit
Cicero zu thun hatte, verschieden sind. Diese Ver-
ähnlichung mit seinem Original ist zuverlässig etwas
mehr in der Seele, als eine Aufsammlung von Jdeen
und Jdeenreihen, welche letztern in viel größerer Maße
beydenen zurückgeblieben sind, die auswendig gelernt ha-
ben. Es gehören unzählig viel andere Erfahrungen
hieher. Die nämliche Denkart und der nämliche Geist,
den ein Mensch aus seiner Kunst oder aus seinem Ge-
werbe annimmt, verbreitet sich auch über seine Spiele
und Zeitvertreibungen und über seine gesammte Auf-
führung zuweilen mehr, zuweilen weniger.

3) Je näher zwo Arten von Geschäfften einander in
Hinsicht der vorzüglich dabey thätigen Vermögen und
der Art und Weise, wie solche wirken, ähnlich sind,

desto
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und Entwickelung des Menſchen.
Begriffe in die letztern wenig Einfluß haben. Die |Geo-
metrie ſchaͤrfet die Vernunft, auch fuͤr Wiſſenſchaften,
in denen keine geometriſchen Begriffe vorkommen. Die
Reden des Cicero kann man leſen, wie ſie der Mann
lieſt, der aus ihnen nur Worte und Redensarten in
ſein Gedaͤchtniß eintraͤgt. Allein wer dem großen
Manne nachzudenken und nachzuempfinden weiß, in der
Anordnung und in der Verbindung der Begriffe, in dem
Vergleichen und in dem Bemerken ihrer mannichfaltigen
Beziehungen auf einander, und ihm alſo auch nicht blos
nachgehet, ſondern auch gewiſſermaßen nachzumachen ſich
beſtrebet, der mag den ihm in der Folge ganz gleichguͤl-
tigen Jnhalt ſeiner Schriften vergeſſen, und nur we-
nig Latinitaͤt aus ihm behalten, und wird dennoch nicht
nur ſeine Ueberlegungskraft geſtaͤrket, ſondern auch
uͤberdieß einen Partikel von dem Geiſte dieſes Mannes
in ſich abgeleitet fuͤhlen, das iſt: er wird Regungen, An-
wandlungen, Triebe und Beſtrebungen in ſich fuͤhlen,
Sachen, die ihm vorkommen, auf eine aͤhnliche Art zu
behandeln, ſo ſehr dieſe Sachen auch von denen, womit
Cicero zu thun hatte, verſchieden ſind. Dieſe Ver-
aͤhnlichung mit ſeinem Original iſt zuverlaͤſſig etwas
mehr in der Seele, als eine Aufſammlung von Jdeen
und Jdeenreihen, welche letztern in viel groͤßerer Maße
beydenen zuruͤckgeblieben ſind, die auswendig gelernt ha-
ben. Es gehoͤren unzaͤhlig viel andere Erfahrungen
hieher. Die naͤmliche Denkart und der naͤmliche Geiſt,
den ein Menſch aus ſeiner Kunſt oder aus ſeinem Ge-
werbe annimmt, verbreitet ſich auch uͤber ſeine Spiele
und Zeitvertreibungen und uͤber ſeine geſammte Auf-
fuͤhrung zuweilen mehr, zuweilen weniger.

3) Je naͤher zwo Arten von Geſchaͤfften einander in
Hinſicht der vorzuͤglich dabey thaͤtigen Vermoͤgen und
der Art und Weiſe, wie ſolche wirken, aͤhnlich ſind,

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[387/0417] und Entwickelung des Menſchen. Begriffe in die letztern wenig Einfluß haben. Die |Geo- metrie ſchaͤrfet die Vernunft, auch fuͤr Wiſſenſchaften, in denen keine geometriſchen Begriffe vorkommen. Die Reden des Cicero kann man leſen, wie ſie der Mann lieſt, der aus ihnen nur Worte und Redensarten in ſein Gedaͤchtniß eintraͤgt. Allein wer dem großen Manne nachzudenken und nachzuempfinden weiß, in der Anordnung und in der Verbindung der Begriffe, in dem Vergleichen und in dem Bemerken ihrer mannichfaltigen Beziehungen auf einander, und ihm alſo auch nicht blos nachgehet, ſondern auch gewiſſermaßen nachzumachen ſich beſtrebet, der mag den ihm in der Folge ganz gleichguͤl- tigen Jnhalt ſeiner Schriften vergeſſen, und nur we- nig Latinitaͤt aus ihm behalten, und wird dennoch nicht nur ſeine Ueberlegungskraft geſtaͤrket, ſondern auch uͤberdieß einen Partikel von dem Geiſte dieſes Mannes in ſich abgeleitet fuͤhlen, das iſt: er wird Regungen, An- wandlungen, Triebe und Beſtrebungen in ſich fuͤhlen, Sachen, die ihm vorkommen, auf eine aͤhnliche Art zu behandeln, ſo ſehr dieſe Sachen auch von denen, womit Cicero zu thun hatte, verſchieden ſind. Dieſe Ver- aͤhnlichung mit ſeinem Original iſt zuverlaͤſſig etwas mehr in der Seele, als eine Aufſammlung von Jdeen und Jdeenreihen, welche letztern in viel groͤßerer Maße beydenen zuruͤckgeblieben ſind, die auswendig gelernt ha- ben. Es gehoͤren unzaͤhlig viel andere Erfahrungen hieher. Die naͤmliche Denkart und der naͤmliche Geiſt, den ein Menſch aus ſeiner Kunſt oder aus ſeinem Ge- werbe annimmt, verbreitet ſich auch uͤber ſeine Spiele und Zeitvertreibungen und uͤber ſeine geſammte Auf- fuͤhrung zuweilen mehr, zuweilen weniger. 3) Je naͤher zwo Arten von Geſchaͤfften einander in Hinſicht der vorzuͤglich dabey thaͤtigen Vermoͤgen und der Art und Weiſe, wie ſolche wirken, aͤhnlich ſind, deſto B b 2

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Zitationshilfe: Tetens, Johann Nicolas: Philosophische Versuche über die menschliche Natur und ihre Entwickelung. Bd. 2. Leipzig, 1777, S. 387. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/tetens_versuche02_1777/417>, abgerufen am 23.11.2024.