Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Tetens, Johann Nicolas: Philosophische Versuche über die menschliche Natur und ihre Entwickelung. Bd. 2. Leipzig, 1777.

Bild:
<< vorherige Seite

im Menschen.
wohl das Verhältniß, worinn das Seelenwesen, als
die wesentliche Kraft der thierischen Organisation, gegen
die übrige organisirte Materie stehet, größer seyn können,
als das Verhältniß des Jchs in diesem Seelenwesen ge-
gen den körperlichen Bestandtheil desselben? Kann al-
so nicht die Jchheit oder die Herrschaft der einfachen
Seele so unbedeutend seyn, daß sie fast für nichts zu
achten ist, wenigstens nicht merklich ist, wo doch das
gesamte körperliche Seelenwesen merklich genug als das
Princip des Lebens und der Thätigkeit hervorraget?
Da wäre denn die angegebene Mittelstufe.

Darüber darf man sich nicht wundern, wenn es uns
so schwer oder gar unmöglich wird, die wirklichen We-
sen in der Welt an ihre gehörigen Stellen in der allge-
meinen Stufenleiter hinzusetzen. Hänget etwan die
zwote Stufe der bloß materiellen Seelenwesen da an,
wo wir die sich selbst aus ihren Stücken wieder völlig er-
gänzenden Wesen antreffen? und gehet sie etwan herunter
bis auf die Pflanzen, und noch etwas in das Natur-
reich hinein? Dieß ist außerordentlich schwer zu be-
stimmen, und wir können zufrieden seyn, wenn wir
nur einigermaßen die Gränzen der verschiedenen Ord-
nungen auffinden. Ohnedieß sind der Unterschiede in
den Graden weit mehrere in der Natur, als wir zu be-
merken im Stande sind. Und hieraus folget die Ver-
muthungsregel, die von einigen großen Naturforschern
schon aus den Erfahrungen gezogen ist: "daß, wenn
"wir eine Wesensart antreffen, deren Natur von den
"übrigen bekannten sehr merklich abweichet, sicher zu
"vermuthen sey, daß es noch mehrere geben werde, die
"dieser in ihren Eigenheiten ähnlich sind." Denn da
hier die Abweichung in den Graden merklich ist, so
wird es noch andere geben, bey denen sie geringer ist,
die wir aber mit der letztern, weil sie ihr allzu nahe
kommt, für einerley ansehen müssen.

Was
II Theil. Z

im Menſchen.
wohl das Verhaͤltniß, worinn das Seelenweſen, als
die weſentliche Kraft der thieriſchen Organiſation, gegen
die uͤbrige organiſirte Materie ſtehet, groͤßer ſeyn koͤnnen,
als das Verhaͤltniß des Jchs in dieſem Seelenweſen ge-
gen den koͤrperlichen Beſtandtheil deſſelben? Kann al-
ſo nicht die Jchheit oder die Herrſchaft der einfachen
Seele ſo unbedeutend ſeyn, daß ſie faſt fuͤr nichts zu
achten iſt, wenigſtens nicht merklich iſt, wo doch das
geſamte koͤrperliche Seelenweſen merklich genug als das
Princip des Lebens und der Thaͤtigkeit hervorraget?
Da waͤre denn die angegebene Mittelſtufe.

Daruͤber darf man ſich nicht wundern, wenn es uns
ſo ſchwer oder gar unmoͤglich wird, die wirklichen We-
ſen in der Welt an ihre gehoͤrigen Stellen in der allge-
meinen Stufenleiter hinzuſetzen. Haͤnget etwan die
zwote Stufe der bloß materiellen Seelenweſen da an,
wo wir die ſich ſelbſt aus ihren Stuͤcken wieder voͤllig er-
gaͤnzenden Weſen antreffen? und gehet ſie etwan herunter
bis auf die Pflanzen, und noch etwas in das Natur-
reich hinein? Dieß iſt außerordentlich ſchwer zu be-
ſtimmen, und wir koͤnnen zufrieden ſeyn, wenn wir
nur einigermaßen die Graͤnzen der verſchiedenen Ord-
nungen auffinden. Ohnedieß ſind der Unterſchiede in
den Graden weit mehrere in der Natur, als wir zu be-
merken im Stande ſind. Und hieraus folget die Ver-
muthungsregel, die von einigen großen Naturforſchern
ſchon aus den Erfahrungen gezogen iſt: „daß, wenn
„wir eine Weſensart antreffen, deren Natur von den
„uͤbrigen bekannten ſehr merklich abweichet, ſicher zu
„vermuthen ſey, daß es noch mehrere geben werde, die
„dieſer in ihren Eigenheiten aͤhnlich ſind.“ Denn da
hier die Abweichung in den Graden merklich iſt, ſo
wird es noch andere geben, bey denen ſie geringer iſt,
die wir aber mit der letztern, weil ſie ihr allzu nahe
kommt, fuͤr einerley anſehen muͤſſen.

Was
II Theil. Z
<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <div n="2">
          <div n="3">
            <div n="4">
              <p><pb facs="#f0383" n="353"/><fw place="top" type="header"><hi rendition="#b">im Men&#x017F;chen.</hi></fw><lb/>
wohl das Verha&#x0364;ltniß, worinn das Seelenwe&#x017F;en, als<lb/>
die we&#x017F;entliche Kraft der thieri&#x017F;chen Organi&#x017F;ation, gegen<lb/>
die u&#x0364;brige organi&#x017F;irte Materie &#x017F;tehet, gro&#x0364;ßer &#x017F;eyn ko&#x0364;nnen,<lb/>
als das Verha&#x0364;ltniß des Jchs in die&#x017F;em Seelenwe&#x017F;en ge-<lb/>
gen den ko&#x0364;rperlichen Be&#x017F;tandtheil de&#x017F;&#x017F;elben? Kann al-<lb/>
&#x017F;o nicht die Jchheit oder die Herr&#x017F;chaft der einfachen<lb/>
Seele &#x017F;o unbedeutend &#x017F;eyn, daß &#x017F;ie fa&#x017F;t fu&#x0364;r nichts zu<lb/>
achten i&#x017F;t, wenig&#x017F;tens nicht merklich i&#x017F;t, wo doch das<lb/>
ge&#x017F;amte ko&#x0364;rperliche Seelenwe&#x017F;en merklich genug als das<lb/>
Princip des Lebens und der Tha&#x0364;tigkeit hervorraget?<lb/>
Da wa&#x0364;re denn die angegebene Mittel&#x017F;tufe.</p><lb/>
              <p>Daru&#x0364;ber darf man &#x017F;ich nicht wundern, wenn es uns<lb/>
&#x017F;o &#x017F;chwer oder gar unmo&#x0364;glich wird, die wirklichen We-<lb/>
&#x017F;en in der Welt an ihre geho&#x0364;rigen Stellen in der allge-<lb/>
meinen Stufenleiter hinzu&#x017F;etzen. Ha&#x0364;nget etwan die<lb/>
zwote Stufe der bloß materiellen Seelenwe&#x017F;en da an,<lb/>
wo wir die &#x017F;ich &#x017F;elb&#x017F;t aus ihren Stu&#x0364;cken wieder vo&#x0364;llig er-<lb/>
ga&#x0364;nzenden We&#x017F;en antreffen? und gehet &#x017F;ie etwan herunter<lb/>
bis auf die Pflanzen, und noch etwas in das Natur-<lb/>
reich hinein? Dieß i&#x017F;t außerordentlich &#x017F;chwer zu be-<lb/>
&#x017F;timmen, und wir ko&#x0364;nnen zufrieden &#x017F;eyn, wenn wir<lb/>
nur einigermaßen die Gra&#x0364;nzen der ver&#x017F;chiedenen Ord-<lb/>
nungen auffinden. Ohnedieß &#x017F;ind der Unter&#x017F;chiede in<lb/>
den Graden weit mehrere in der Natur, als wir zu be-<lb/>
merken im Stande &#x017F;ind. Und hieraus folget die Ver-<lb/>
muthungsregel, die von einigen großen Naturfor&#x017F;chern<lb/>
&#x017F;chon aus den Erfahrungen gezogen i&#x017F;t: &#x201E;daß, wenn<lb/>
&#x201E;wir eine We&#x017F;ensart antreffen, deren Natur von den<lb/>
&#x201E;u&#x0364;brigen bekannten &#x017F;ehr merklich abweichet, &#x017F;icher zu<lb/>
&#x201E;vermuthen &#x017F;ey, daß es noch mehrere geben werde, die<lb/>
&#x201E;die&#x017F;er in ihren Eigenheiten a&#x0364;hnlich &#x017F;ind.&#x201C; Denn da<lb/>
hier die Abweichung in den Graden <hi rendition="#fr">merklich</hi> i&#x017F;t, &#x017F;o<lb/>
wird es noch andere geben, bey denen &#x017F;ie geringer i&#x017F;t,<lb/>
die wir aber mit der letztern, weil &#x017F;ie ihr allzu nahe<lb/>
kommt, fu&#x0364;r einerley an&#x017F;ehen mu&#x0364;&#x017F;&#x017F;en.</p><lb/>
              <fw place="bottom" type="sig"><hi rendition="#aq">II</hi><hi rendition="#fr">Theil.</hi> Z</fw>
              <fw place="bottom" type="catch">Was</fw><lb/>
            </div>
          </div>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[353/0383] im Menſchen. wohl das Verhaͤltniß, worinn das Seelenweſen, als die weſentliche Kraft der thieriſchen Organiſation, gegen die uͤbrige organiſirte Materie ſtehet, groͤßer ſeyn koͤnnen, als das Verhaͤltniß des Jchs in dieſem Seelenweſen ge- gen den koͤrperlichen Beſtandtheil deſſelben? Kann al- ſo nicht die Jchheit oder die Herrſchaft der einfachen Seele ſo unbedeutend ſeyn, daß ſie faſt fuͤr nichts zu achten iſt, wenigſtens nicht merklich iſt, wo doch das geſamte koͤrperliche Seelenweſen merklich genug als das Princip des Lebens und der Thaͤtigkeit hervorraget? Da waͤre denn die angegebene Mittelſtufe. Daruͤber darf man ſich nicht wundern, wenn es uns ſo ſchwer oder gar unmoͤglich wird, die wirklichen We- ſen in der Welt an ihre gehoͤrigen Stellen in der allge- meinen Stufenleiter hinzuſetzen. Haͤnget etwan die zwote Stufe der bloß materiellen Seelenweſen da an, wo wir die ſich ſelbſt aus ihren Stuͤcken wieder voͤllig er- gaͤnzenden Weſen antreffen? und gehet ſie etwan herunter bis auf die Pflanzen, und noch etwas in das Natur- reich hinein? Dieß iſt außerordentlich ſchwer zu be- ſtimmen, und wir koͤnnen zufrieden ſeyn, wenn wir nur einigermaßen die Graͤnzen der verſchiedenen Ord- nungen auffinden. Ohnedieß ſind der Unterſchiede in den Graden weit mehrere in der Natur, als wir zu be- merken im Stande ſind. Und hieraus folget die Ver- muthungsregel, die von einigen großen Naturforſchern ſchon aus den Erfahrungen gezogen iſt: „daß, wenn „wir eine Weſensart antreffen, deren Natur von den „uͤbrigen bekannten ſehr merklich abweichet, ſicher zu „vermuthen ſey, daß es noch mehrere geben werde, die „dieſer in ihren Eigenheiten aͤhnlich ſind.“ Denn da hier die Abweichung in den Graden merklich iſt, ſo wird es noch andere geben, bey denen ſie geringer iſt, die wir aber mit der letztern, weil ſie ihr allzu nahe kommt, fuͤr einerley anſehen muͤſſen. Was II Theil. Z

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
TCF (tokenisiert, serialisiert, lemmatisiert, normalisiert)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien im Double-Keying-Verfahren von Nicht-Muttersprachlern erfasst und in XML/TEI P5 nach DTA-Basisformat kodiert.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/tetens_versuche02_1777
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/tetens_versuche02_1777/383
Zitationshilfe: Tetens, Johann Nicolas: Philosophische Versuche über die menschliche Natur und ihre Entwickelung. Bd. 2. Leipzig, 1777, S. 353. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/tetens_versuche02_1777/383>, abgerufen am 20.05.2024.