seyn, daß eine gewisse Disposition in ihr, und beson- ders die Disposition diese oder jene Jdee wieder zu erwecken, einmal entweder gänzlich, oder doch bis da- hin sich verlöre, daß sie diese Vorstellung, ohne eine neue Jmpression von aussen, nicht wieder aus sich selbst hervorziehen könnte? Warum kann es nicht eben so wohl ein Seelengesetz als ein Gesetz der Organisation seyn, daß eine Disposition zur Thätigkeit, die lange ungebraucht lieget, sich verliere und in ein Unvermögen übergehe?
6.
Sollte aber jemals eine in die Seele gebrachte Vor- stellung sich so gänzlich wieder verlieren, daß auch nichts mehr von ihr vorhanden sey, und daß sie niemals wie- der erwecket werden könne? Daß einige bis auf einen gewissen Grad erlöschen, ist außer Zweifel, nämlich bis so weit, daß man solche unter den gewöhnlichen Um- ständen in diesem Leben und bey der gewöhnlichen Anstrengung der Seelenkraft nicht reproduciren kann. Aber daß sie sich dergestalt verlieren sollten, daß es eben so gut wäre, als wenn sie niemals vorhanden gewesen, würde ich allein wegen der theoretischen Vernunftgründe, die Leibnitz und Wolf dagegen anführten, für höchst unwahrscheinlich halten. Allein dieß meine ich hier nicht, sondern sehe vielmehr darauf, ob irgend eine Vorstellung, welche so stark in der Seele sich befestigt hatte, daß sie von ihrer eigenen Kraft reproduciret wer- den könnte, bis dahin sich verliere, daß sie durchaus nicht mehr als eine solche Vorstellung reprodu- cibel sey; und dann, ob hierüber ohne Rücksicht auf Raisonnements aus allgemeinen Gründen, bloß aus Erfahrungen, sich etwas erkennen lasse? Man hat Beyspiele, daß Personen in ihrer zarten Jugend Wör- ter, Sprüche, gewisse Redensarten, aus einer Sprache
gele-
XIII. Verſuch. Ueber das Seelenweſen
ſeyn, daß eine gewiſſe Diſpoſition in ihr, und beſon- ders die Diſpoſition dieſe oder jene Jdee wieder zu erwecken, einmal entweder gaͤnzlich, oder doch bis da- hin ſich verloͤre, daß ſie dieſe Vorſtellung, ohne eine neue Jmpreſſion von auſſen, nicht wieder aus ſich ſelbſt hervorziehen koͤnnte? Warum kann es nicht eben ſo wohl ein Seelengeſetz als ein Geſetz der Organiſation ſeyn, daß eine Diſpoſition zur Thaͤtigkeit, die lange ungebraucht lieget, ſich verliere und in ein Unvermoͤgen uͤbergehe?
6.
Sollte aber jemals eine in die Seele gebrachte Vor- ſtellung ſich ſo gaͤnzlich wieder verlieren, daß auch nichts mehr von ihr vorhanden ſey, und daß ſie niemals wie- der erwecket werden koͤnne? Daß einige bis auf einen gewiſſen Grad erloͤſchen, iſt außer Zweifel, naͤmlich bis ſo weit, daß man ſolche unter den gewoͤhnlichen Um- ſtaͤnden in dieſem Leben und bey der gewoͤhnlichen Anſtrengung der Seelenkraft nicht reproduciren kann. Aber daß ſie ſich dergeſtalt verlieren ſollten, daß es eben ſo gut waͤre, als wenn ſie niemals vorhanden geweſen, wuͤrde ich allein wegen der theoretiſchen Vernunftgruͤnde, die Leibnitz und Wolf dagegen anfuͤhrten, fuͤr hoͤchſt unwahrſcheinlich halten. Allein dieß meine ich hier nicht, ſondern ſehe vielmehr darauf, ob irgend eine Vorſtellung, welche ſo ſtark in der Seele ſich befeſtigt hatte, daß ſie von ihrer eigenen Kraft reproduciret wer- den koͤnnte, bis dahin ſich verliere, daß ſie durchaus nicht mehr als eine ſolche Vorſtellung reprodu- cibel ſey; und dann, ob hieruͤber ohne Ruͤckſicht auf Raiſonnements aus allgemeinen Gruͤnden, bloß aus Erfahrungen, ſich etwas erkennen laſſe? Man hat Beyſpiele, daß Perſonen in ihrer zarten Jugend Woͤr- ter, Spruͤche, gewiſſe Redensarten, aus einer Sprache
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XIII. Verſuch. Ueber das Seelenweſen
ſeyn, daß eine gewiſſe Diſpoſition in ihr, und beſon-
ders die Diſpoſition dieſe oder jene Jdee wieder zu
erwecken, einmal entweder gaͤnzlich, oder doch bis da-
hin ſich verloͤre, daß ſie dieſe Vorſtellung, ohne eine
neue Jmpreſſion von auſſen, nicht wieder aus ſich ſelbſt
hervorziehen koͤnnte? Warum kann es nicht eben ſo
wohl ein Seelengeſetz als ein Geſetz der Organiſation
ſeyn, daß eine Diſpoſition zur Thaͤtigkeit, die lange
ungebraucht lieget, ſich verliere und in ein Unvermoͤgen
uͤbergehe?
6.
Sollte aber jemals eine in die Seele gebrachte Vor-
ſtellung ſich ſo gaͤnzlich wieder verlieren, daß auch nichts
mehr von ihr vorhanden ſey, und daß ſie niemals wie-
der erwecket werden koͤnne? Daß einige bis auf einen
gewiſſen Grad erloͤſchen, iſt außer Zweifel, naͤmlich bis
ſo weit, daß man ſolche unter den gewoͤhnlichen Um-
ſtaͤnden in dieſem Leben und bey der gewoͤhnlichen
Anſtrengung der Seelenkraft nicht reproduciren kann.
Aber daß ſie ſich dergeſtalt verlieren ſollten, daß es eben
ſo gut waͤre, als wenn ſie niemals vorhanden geweſen,
wuͤrde ich allein wegen der theoretiſchen Vernunftgruͤnde,
die Leibnitz und Wolf dagegen anfuͤhrten, fuͤr hoͤchſt
unwahrſcheinlich halten. Allein dieß meine ich hier
nicht, ſondern ſehe vielmehr darauf, ob irgend eine
Vorſtellung, welche ſo ſtark in der Seele ſich befeſtigt
hatte, daß ſie von ihrer eigenen Kraft reproduciret wer-
den koͤnnte, bis dahin ſich verliere, daß ſie durchaus
nicht mehr als eine ſolche Vorſtellung reprodu-
cibel ſey; und dann, ob hieruͤber ohne Ruͤckſicht auf
Raiſonnements aus allgemeinen Gruͤnden, bloß aus
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Tetens, Johann Nicolas: Philosophische Versuche über die menschliche Natur und ihre Entwickelung. Bd. 2. Leipzig, 1777, S. 266. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/tetens_versuche02_1777/296>, abgerufen am 23.11.2024.
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