noch leichter sich zum Nichtwollen, als zum Wollen be- stimmen konnte. Allein mir gefällt nun das Eine nicht, und ich bestimme mich also auf diese Jdee nicht.
Dieß ist die zwote Gränzlinie. Sie liegt da, wo mein klarstes Selbstbewußtseyn, auch nach der sorgfältig- sten Prüfung, mir nicht den geringsten Zweifel darü- ber zurückläßt, daß ich nicht hätte nicht wollen können; daß ich nicht das volle Vermögen gehabt hätte, mich auf eine Art zu bestimmen, die derjenigen, auf der ich mich wirklich bestimmt habe, ganz entgegen ist.
Aber das Selbstgefühl der Freyheit sagt uns, daß eine solche geflissentliche Erwägung des Gegentheils nicht allemal vorhanden sey, auch wenn ich mit Besin- nung will, und auch noch eben so stark ein volles Ver- mögen nicht zu wollen in mir gewahrnehme.
Laß die Jdee vom Nichtwollen, die wir immer noch als den Gegenstand ansehen können, auf den die sich selbst bestimmende Kraft applicirt werden sollte, dermalen min- der lebhaft in mir gegenwärtig seyn, und laß diesen Um- stand allein den Grund seyn, warum sie mir minder ge- fallen hat, als ihre entgegengesetzte: so kann sie nichts desto weniger auf eine solche Art in mir seyn, daß, um sie mir lebhaft gegenwärtig zu machen, und in meinem dermaligen Zustande sie mehr zu entwickeln, als es wirklich geschieht, weiter nichts erfodert werde, als daß nur dieser Aktus der stärkern Reproduktion mir mehr bey ihr gefallen hätte, als bey der entgegengesetzten. Jch rede immer nur von solchen Aktionen, wozu ein unmittelbares Vermögen vorhanden ist. Sonsten liegt nichts daran, wenn ich auf das Gegentheil gar keine Rücksicht nehme; wenn ich nur es gethan haben würde, so bald ich in meiner gegenwärtigen Verfassung es gefälliger gefunden hätte, mich mehr umzusehen, und noch andre Jdeen zu erwecken, als mich zu der Ersten zu bestimmen, die sich darbot. Fällt mir das Gegen-
theil
XII. Verſuch. Ueber die Selbſtthaͤtigkeit
noch leichter ſich zum Nichtwollen, als zum Wollen be- ſtimmen konnte. Allein mir gefaͤllt nun das Eine nicht, und ich beſtimme mich alſo auf dieſe Jdee nicht.
Dieß iſt die zwote Graͤnzlinie. Sie liegt da, wo mein klarſtes Selbſtbewußtſeyn, auch nach der ſorgfaͤltig- ſten Pruͤfung, mir nicht den geringſten Zweifel daruͤ- ber zuruͤcklaͤßt, daß ich nicht haͤtte nicht wollen koͤnnen; daß ich nicht das volle Vermoͤgen gehabt haͤtte, mich auf eine Art zu beſtimmen, die derjenigen, auf der ich mich wirklich beſtimmt habe, ganz entgegen iſt.
Aber das Selbſtgefuͤhl der Freyheit ſagt uns, daß eine ſolche gefliſſentliche Erwaͤgung des Gegentheils nicht allemal vorhanden ſey, auch wenn ich mit Beſin- nung will, und auch noch eben ſo ſtark ein volles Ver- moͤgen nicht zu wollen in mir gewahrnehme.
Laß die Jdee vom Nichtwollen, die wir immer noch als den Gegenſtand anſehen koͤnnen, auf den die ſich ſelbſt beſtimmende Kraft applicirt werden ſollte, dermalen min- der lebhaft in mir gegenwaͤrtig ſeyn, und laß dieſen Um- ſtand allein den Grund ſeyn, warum ſie mir minder ge- fallen hat, als ihre entgegengeſetzte: ſo kann ſie nichts deſto weniger auf eine ſolche Art in mir ſeyn, daß, um ſie mir lebhaft gegenwaͤrtig zu machen, und in meinem dermaligen Zuſtande ſie mehr zu entwickeln, als es wirklich geſchieht, weiter nichts erfodert werde, als daß nur dieſer Aktus der ſtaͤrkern Reproduktion mir mehr bey ihr gefallen haͤtte, als bey der entgegengeſetzten. Jch rede immer nur von ſolchen Aktionen, wozu ein unmittelbares Vermoͤgen vorhanden iſt. Sonſten liegt nichts daran, wenn ich auf das Gegentheil gar keine Ruͤckſicht nehme; wenn ich nur es gethan haben wuͤrde, ſo bald ich in meiner gegenwaͤrtigen Verfaſſung es gefaͤlliger gefunden haͤtte, mich mehr umzuſehen, und noch andre Jdeen zu erwecken, als mich zu der Erſten zu beſtimmen, die ſich darbot. Faͤllt mir das Gegen-
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XII. Verſuch. Ueber die Selbſtthaͤtigkeit
noch leichter ſich zum Nichtwollen, als zum Wollen be-
ſtimmen konnte. Allein mir gefaͤllt nun das Eine nicht,
und ich beſtimme mich alſo auf dieſe Jdee nicht.
Dieß iſt die zwote Graͤnzlinie. Sie liegt da, wo
mein klarſtes Selbſtbewußtſeyn, auch nach der ſorgfaͤltig-
ſten Pruͤfung, mir nicht den geringſten Zweifel daruͤ-
ber zuruͤcklaͤßt, daß ich nicht haͤtte nicht wollen koͤnnen;
daß ich nicht das volle Vermoͤgen gehabt haͤtte, mich
auf eine Art zu beſtimmen, die derjenigen, auf der ich
mich wirklich beſtimmt habe, ganz entgegen iſt.
Aber das Selbſtgefuͤhl der Freyheit ſagt uns, daß
eine ſolche gefliſſentliche Erwaͤgung des Gegentheils
nicht allemal vorhanden ſey, auch wenn ich mit Beſin-
nung will, und auch noch eben ſo ſtark ein volles Ver-
moͤgen nicht zu wollen in mir gewahrnehme.
Laß die Jdee vom Nichtwollen, die wir immer noch
als den Gegenſtand anſehen koͤnnen, auf den die ſich ſelbſt
beſtimmende Kraft applicirt werden ſollte, dermalen min-
der lebhaft in mir gegenwaͤrtig ſeyn, und laß dieſen Um-
ſtand allein den Grund ſeyn, warum ſie mir minder ge-
fallen hat, als ihre entgegengeſetzte: ſo kann ſie nichts
deſto weniger auf eine ſolche Art in mir ſeyn, daß, um
ſie mir lebhaft gegenwaͤrtig zu machen, und in meinem
dermaligen Zuſtande ſie mehr zu entwickeln, als es
wirklich geſchieht, weiter nichts erfodert werde, als
daß nur dieſer Aktus der ſtaͤrkern Reproduktion mir
mehr bey ihr gefallen haͤtte, als bey der entgegengeſetzten.
Jch rede immer nur von ſolchen Aktionen, wozu ein
unmittelbares Vermoͤgen vorhanden iſt. Sonſten
liegt nichts daran, wenn ich auf das Gegentheil gar
keine Ruͤckſicht nehme; wenn ich nur es gethan haben
wuͤrde, ſo bald ich in meiner gegenwaͤrtigen Verfaſſung
es gefaͤlliger gefunden haͤtte, mich mehr umzuſehen, und
noch andre Jdeen zu erwecken, als mich zu der Erſten
zu beſtimmen, die ſich darbot. Faͤllt mir das Gegen-
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Tetens, Johann Nicolas: Philosophische Versuche über die menschliche Natur und ihre Entwickelung. Bd. 2. Leipzig, 1777, S. 110. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/tetens_versuche02_1777/140>, abgerufen am 27.11.2024.
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