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Tetens, Johann Nicolas: Philosophische Versuche über die menschliche Natur und ihre Entwickelung. Bd. 2. Leipzig, 1777.

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XII. Versuch. Ueber die Selbstthätigkeit
chet wird, darinn auflösen, daß jenes innere vorher schon
wirksame Princip nur zur Reaktion gegen die von außen
einwirkende Kraft gebracht werde. Und sollte sichs ins-
besondere bey der Seele nicht auf diese Art verhalten?

Endlich wenn die Wirksamkeit der Seele sowol von
dem innern Naturprincip, als von der Einwirkung
äußerer Ursachen abhängt, wie verhält sich die Bey-
wirkung von außen
zu dem Antheil, den jenes in-
nere Princip
an der entstandenen Wirksamkeit hat?
Wie unendlich viele Grade und Stufen in dieser Ab-
hängigkeit giebt es nicht, die zugleich die innere Größe
der natürlichen Selbstthätigkeit eines Wesens bestim-
men? Dieß Verhältniß ist, zumal bey uns, wenn
das ganze innere Seelenwesen für die Seele angesehen
wird, nicht allemal das nämliche. Die Lebhaftigkeit
des Geistes ist zuweilen mehr eine Wirkung der heitern
Luft, der Gesundheit des Körpers, des Glücks, des
Weins, als der innern Seelenstärke. Um manchem
eingebildeten starken Geiste seinen Muth zu entziehn,
darf man ihn nur kümmerlich speisen, oder in eine dicke
luft bringen; aber bey andern ist die Quelle des Lebens
und der Stärke in dem Jnnern. Nicht alle Menschen
sind gleich wetterläunisch, wie der Hypochondrist. Wo
liegt der Grund dieser Verschiedenheit?

Es ist schon zu viel gefragt. Wenn es in unsern
Gemeinbegriffen nicht noch an demjenigen fehlte, was
die Metaphysiker in ihren Systemen schon darinn zu
finden geglaubt haben, so ließe sich Eins und das andere
näher bestimmen, und ohne Zweifel würden sie uns denn
ihrem Zwecke gemäß um eine Schicht tiefer unter der
Oberfläche, und näher an das Jnnere unserer Natur
bringen. Aber unerreichbar ist dieses Jnnere doch. Jch
kehre zu den Beobachtungen zurück, und habe bey diesen
Fragen die Gränzlinie ziehen wollen, innerhalb welcher
ich stehen bleiben will.

X. Von

XII. Verſuch. Ueber die Selbſtthaͤtigkeit
chet wird, darinn aufloͤſen, daß jenes innere vorher ſchon
wirkſame Princip nur zur Reaktion gegen die von außen
einwirkende Kraft gebracht werde. Und ſollte ſichs ins-
beſondere bey der Seele nicht auf dieſe Art verhalten?

Endlich wenn die Wirkſamkeit der Seele ſowol von
dem innern Naturprincip, als von der Einwirkung
aͤußerer Urſachen abhaͤngt, wie verhaͤlt ſich die Bey-
wirkung von außen
zu dem Antheil, den jenes in-
nere Princip
an der entſtandenen Wirkſamkeit hat?
Wie unendlich viele Grade und Stufen in dieſer Ab-
haͤngigkeit giebt es nicht, die zugleich die innere Groͤße
der natuͤrlichen Selbſtthaͤtigkeit eines Weſens beſtim-
men? Dieß Verhaͤltniß iſt, zumal bey uns, wenn
das ganze innere Seelenweſen fuͤr die Seele angeſehen
wird, nicht allemal das naͤmliche. Die Lebhaftigkeit
des Geiſtes iſt zuweilen mehr eine Wirkung der heitern
Luft, der Geſundheit des Koͤrpers, des Gluͤcks, des
Weins, als der innern Seelenſtaͤrke. Um manchem
eingebildeten ſtarken Geiſte ſeinen Muth zu entziehn,
darf man ihn nur kuͤmmerlich ſpeiſen, oder in eine dicke
luft bringen; aber bey andern iſt die Quelle des Lebens
und der Staͤrke in dem Jnnern. Nicht alle Menſchen
ſind gleich wetterlaͤuniſch, wie der Hypochondriſt. Wo
liegt der Grund dieſer Verſchiedenheit?

Es iſt ſchon zu viel gefragt. Wenn es in unſern
Gemeinbegriffen nicht noch an demjenigen fehlte, was
die Metaphyſiker in ihren Syſtemen ſchon darinn zu
finden geglaubt haben, ſo ließe ſich Eins und das andere
naͤher beſtimmen, und ohne Zweifel wuͤrden ſie uns denn
ihrem Zwecke gemaͤß um eine Schicht tiefer unter der
Oberflaͤche, und naͤher an das Jnnere unſerer Natur
bringen. Aber unerreichbar iſt dieſes Jnnere doch. Jch
kehre zu den Beobachtungen zuruͤck, und habe bey dieſen
Fragen die Graͤnzlinie ziehen wollen, innerhalb welcher
ich ſtehen bleiben will.

X. Von
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[72/0102] XII. Verſuch. Ueber die Selbſtthaͤtigkeit chet wird, darinn aufloͤſen, daß jenes innere vorher ſchon wirkſame Princip nur zur Reaktion gegen die von außen einwirkende Kraft gebracht werde. Und ſollte ſichs ins- beſondere bey der Seele nicht auf dieſe Art verhalten? Endlich wenn die Wirkſamkeit der Seele ſowol von dem innern Naturprincip, als von der Einwirkung aͤußerer Urſachen abhaͤngt, wie verhaͤlt ſich die Bey- wirkung von außen zu dem Antheil, den jenes in- nere Princip an der entſtandenen Wirkſamkeit hat? Wie unendlich viele Grade und Stufen in dieſer Ab- haͤngigkeit giebt es nicht, die zugleich die innere Groͤße der natuͤrlichen Selbſtthaͤtigkeit eines Weſens beſtim- men? Dieß Verhaͤltniß iſt, zumal bey uns, wenn das ganze innere Seelenweſen fuͤr die Seele angeſehen wird, nicht allemal das naͤmliche. Die Lebhaftigkeit des Geiſtes iſt zuweilen mehr eine Wirkung der heitern Luft, der Geſundheit des Koͤrpers, des Gluͤcks, des Weins, als der innern Seelenſtaͤrke. Um manchem eingebildeten ſtarken Geiſte ſeinen Muth zu entziehn, darf man ihn nur kuͤmmerlich ſpeiſen, oder in eine dicke luft bringen; aber bey andern iſt die Quelle des Lebens und der Staͤrke in dem Jnnern. Nicht alle Menſchen ſind gleich wetterlaͤuniſch, wie der Hypochondriſt. Wo liegt der Grund dieſer Verſchiedenheit? Es iſt ſchon zu viel gefragt. Wenn es in unſern Gemeinbegriffen nicht noch an demjenigen fehlte, was die Metaphyſiker in ihren Syſtemen ſchon darinn zu finden geglaubt haben, ſo ließe ſich Eins und das andere naͤher beſtimmen, und ohne Zweifel wuͤrden ſie uns denn ihrem Zwecke gemaͤß um eine Schicht tiefer unter der Oberflaͤche, und naͤher an das Jnnere unſerer Natur bringen. Aber unerreichbar iſt dieſes Jnnere doch. Jch kehre zu den Beobachtungen zuruͤck, und habe bey dieſen Fragen die Graͤnzlinie ziehen wollen, innerhalb welcher ich ſtehen bleiben will. X. Von

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Zitationshilfe: Tetens, Johann Nicolas: Philosophische Versuche über die menschliche Natur und ihre Entwickelung. Bd. 2. Leipzig, 1777, S. 72. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/tetens_versuche02_1777/102>, abgerufen am 28.11.2024.