Rede ist, und davon, ob jene nicht mehr und stärker als die angebohrne Natur selbst zu der wirklichen Verschie- denheit unter den Menschen beytrage? Da gestehe ich, daß dieß mehrern Zweifeln unterworfen sey, wenn man auf der Einen Seite den immer kenntlichen Charakter des Naturgenies, wodurch es vor dem durch Nachah- mung und Fleiß erworbenen Genie sich unterscheidet, auf der andern Seite gegen die auffallend mächtigen Einflüsse der Anführung, der Erziehung und der äußern Umstände in Vergleichung bringet. Und da kann es nicht geläug- net werden, daß es in dem Schlußsatze wenig ändern würde; man möchte den äußern Umständen nur ein ent- scheidendes Uebergewicht bey der Ausbildung zuschreiben, oder sie allein alles wirken lassen.
Es bedarf aber der Widerlegung dieser Meinung nicht, wenn man aus dem obigen Erfahrungssatz nur so viel be- weisen will, daß es im Menschengeschlecht, so wie sol- ches ist, hie oder da Köpfe gebe, die eine Sprache erfin- den könnten, würden, und müßten; und nicht zugleich behaupten will, daß diese Erfindungskraft eine innere Naturstärke seyn solle.
Es mag alle Verschiedenheit unter den Menschen ein Werk der äußern Umstände seyn, so zeiget die erwehnte Be- obachtung, daß Jndividuen da sind, die allein durch die Er- ziehung der Natur und der Umstände, ohne Unterricht und ohne Vorgang anderer Menschen ihre Vervollenkommung weiter bringen, als die meisten übrigen: Und hieraus fol- get denn ferner, daß wenn gleich tausend und zehntausend sich selbst überlassen niemals zu einer Sprache ohne Anfüh- rung von andern gelangen können, so sey daraus noch kein Schluß zu machen, daß nicht Einer oder zwo unter diesen, oder, unter einer noch größern Anzahl, dazu kommen werden. Wir sehen doch daraus, daß auch die Schule der Natur hie und da solche Anleitungen gebe, wodurch die angebohrne Vernunftanlage zu ihrer Entwickelung gebracht wird. Und dieß ist genug; denn wenn sie zu dieser hinreichet, so
reichet
Anhang
Rede iſt, und davon, ob jene nicht mehr und ſtaͤrker als die angebohrne Natur ſelbſt zu der wirklichen Verſchie- denheit unter den Menſchen beytrage? Da geſtehe ich, daß dieß mehrern Zweifeln unterworfen ſey, wenn man auf der Einen Seite den immer kenntlichen Charakter des Naturgenies, wodurch es vor dem durch Nachah- mung und Fleiß erworbenen Genie ſich unterſcheidet, auf der andern Seite gegen die auffallend maͤchtigen Einfluͤſſe der Anfuͤhrung, der Erziehung und der aͤußern Umſtaͤnde in Vergleichung bringet. Und da kann es nicht gelaͤug- net werden, daß es in dem Schlußſatze wenig aͤndern wuͤrde; man moͤchte den aͤußern Umſtaͤnden nur ein ent- ſcheidendes Uebergewicht bey der Ausbildung zuſchreiben, oder ſie allein alles wirken laſſen.
Es bedarf aber der Widerlegung dieſer Meinung nicht, wenn man aus dem obigen Erfahrungsſatz nur ſo viel be- weiſen will, daß es im Menſchengeſchlecht, ſo wie ſol- ches iſt, hie oder da Koͤpfe gebe, die eine Sprache erfin- den koͤnnten, wuͤrden, und muͤßten; und nicht zugleich behaupten will, daß dieſe Erfindungskraft eine innere Naturſtaͤrke ſeyn ſolle.
Es mag alle Verſchiedenheit unter den Menſchen ein Werk der aͤußern Umſtaͤnde ſeyn, ſo zeiget die erwehnte Be- obachtung, daß Jndividuen da ſind, die allein durch die Er- ziehung der Natur und der Umſtaͤnde, ohne Unterricht und ohne Vorgang anderer Menſchen ihre Vervollenkommung weiter bringen, als die meiſten uͤbrigen: Und hieraus fol- get denn ferner, daß wenn gleich tauſend und zehntauſend ſich ſelbſt uͤberlaſſen niemals zu einer Sprache ohne Anfuͤh- rung von andern gelangen koͤnnen, ſo ſey daraus noch kein Schluß zu machen, daß nicht Einer oder zwo unter dieſen, oder, unter einer noch groͤßern Anzahl, dazu kommen werden. Wir ſehen doch daraus, daß auch die Schule der Natur hie und da ſolche Anleitungen gebe, wodurch die angebohrne Vernunftanlage zu ihrer Entwickelung gebracht wird. Und dieß iſt genug; denn wenn ſie zu dieſer hinreichet, ſo
reichet
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Anhang
Rede iſt, und davon, ob jene nicht mehr und ſtaͤrker als
die angebohrne Natur ſelbſt zu der wirklichen Verſchie-
denheit unter den Menſchen beytrage? Da geſtehe ich,
daß dieß mehrern Zweifeln unterworfen ſey, wenn man
auf der Einen Seite den immer kenntlichen Charakter
des Naturgenies, wodurch es vor dem durch Nachah-
mung und Fleiß erworbenen Genie ſich unterſcheidet, auf
der andern Seite gegen die auffallend maͤchtigen Einfluͤſſe
der Anfuͤhrung, der Erziehung und der aͤußern Umſtaͤnde
in Vergleichung bringet. Und da kann es nicht gelaͤug-
net werden, daß es in dem Schlußſatze wenig aͤndern
wuͤrde; man moͤchte den aͤußern Umſtaͤnden nur ein ent-
ſcheidendes Uebergewicht bey der Ausbildung zuſchreiben,
oder ſie allein alles wirken laſſen.
Es bedarf aber der Widerlegung dieſer Meinung nicht,
wenn man aus dem obigen Erfahrungsſatz nur ſo viel be-
weiſen will, daß es im Menſchengeſchlecht, ſo wie ſol-
ches iſt, hie oder da Koͤpfe gebe, die eine Sprache erfin-
den koͤnnten, wuͤrden, und muͤßten; und nicht zugleich
behaupten will, daß dieſe Erfindungskraft eine innere
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Es mag alle Verſchiedenheit unter den Menſchen ein
Werk der aͤußern Umſtaͤnde ſeyn, ſo zeiget die erwehnte Be-
obachtung, daß Jndividuen da ſind, die allein durch die Er-
ziehung der Natur und der Umſtaͤnde, ohne Unterricht und
ohne Vorgang anderer Menſchen ihre Vervollenkommung
weiter bringen, als die meiſten uͤbrigen: Und hieraus fol-
get denn ferner, daß wenn gleich tauſend und zehntauſend
ſich ſelbſt uͤberlaſſen niemals zu einer Sprache ohne Anfuͤh-
rung von andern gelangen koͤnnen, ſo ſey daraus noch kein
Schluß zu machen, daß nicht Einer oder zwo unter dieſen,
oder, unter einer noch groͤßern Anzahl, dazu kommen werden.
Wir ſehen doch daraus, daß auch die Schule der Natur hie
und da ſolche Anleitungen gebe, wodurch die angebohrne
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Tetens, Johann Nicolas: Philosophische Versuche über die menschliche Natur und ihre Entwickelung. Bd. 1. Leipzig, 1777, S. 782. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/tetens_versuche01_1777/842>, abgerufen am 28.11.2024.
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