Es muß einem hiebey freylich wohl Helvetius Mei- nung einfallen, der alle Menschenseelen, so wie sie auf die Welt kommen, an Kopf und Herzen für einander gleich hielt und alle nachherige Verschiedenheit als eine Wirkung der äußern Umstände ansah. Wenn diese Meinung bewiesen wäre, so scheinet es, die obige Jdee von dem Menschengeschlecht müsse durchstrichen werden.
Man kann zuerst hierauf antworten, daß, so viele Mühe sich Helvetius auch gegeben hat, die natürliche Gleichheit der Köpfe zu beweisen, so sey und bleibe sie unerwiesen, und unwahrscheinlich, und habe die ganze Analogie der Natur gegen sich. Jst in allen einzelnen Pflanzensaamen der Entwickelungstrieb von gleicher Stärke? Die Menschenseelen haben zwar als Wesen Eines Geschlechts einerley Anlagen, und daraus folget, daß jedes Jndividuum eben das erlernen, und eben die moralischen Gesinnungen erlangen könne, die der Kopf und das Herz eines jeden andern gefasset hat. Dieß ist das Hauptargument des Helvetius, aber wie wird da- durch jede angebohrne Verschiedenheit in der Größe und Stärke der Triebe ausgeschlossen? Laß jedwede Hottentottenseele aufgelegt seyn, alle Jdeen anzunehmen, und laß sie solche selbstthätig sich bilden lernen können, die Leibnitz Genie gefasset und geschaffen hatte, unter der Bedingung, daß jene gehörig angeführet und ihr die dazu nöthige Zeit gelassen werde, und daß sie in ihrer Uebung auch beständig fortfahre; laß dieß so seyn, aber würde sie nicht, wie viele tausend andere, in ihren Lehrjah- ren wegsterben? Die Schnecke kann dahin kommen, wohin der Hirsch lauft; nur in ihrem gegenwärtigen Le- ben dürfte ihr die Zeit dazu leicht zu kurz seyn. Und auf diesen Umstand finde ich nicht, daß Helvetius bey so vielen Wendungen, die er seiner Lieblingshypothese ge- geben, Rücksicht genommen habe. Eine ganz andere Sache ist es, wenn von der Größe des Einflusses der äußern Umstände auf die Verschiedenheit der Köpfe die
Rede
zum eilften Verſuch.
Es muß einem hiebey freylich wohl Helvetius Mei- nung einfallen, der alle Menſchenſeelen, ſo wie ſie auf die Welt kommen, an Kopf und Herzen fuͤr einander gleich hielt und alle nachherige Verſchiedenheit als eine Wirkung der aͤußern Umſtaͤnde anſah. Wenn dieſe Meinung bewieſen waͤre, ſo ſcheinet es, die obige Jdee von dem Menſchengeſchlecht muͤſſe durchſtrichen werden.
Man kann zuerſt hierauf antworten, daß, ſo viele Muͤhe ſich Helvetius auch gegeben hat, die natuͤrliche Gleichheit der Koͤpfe zu beweiſen, ſo ſey und bleibe ſie unerwieſen, und unwahrſcheinlich, und habe die ganze Analogie der Natur gegen ſich. Jſt in allen einzelnen Pflanzenſaamen der Entwickelungstrieb von gleicher Staͤrke? Die Menſchenſeelen haben zwar als Weſen Eines Geſchlechts einerley Anlagen, und daraus folget, daß jedes Jndividuum eben das erlernen, und eben die moraliſchen Geſinnungen erlangen koͤnne, die der Kopf und das Herz eines jeden andern gefaſſet hat. Dieß iſt das Hauptargument des Helvetius, aber wie wird da- durch jede angebohrne Verſchiedenheit in der Groͤße und Staͤrke der Triebe ausgeſchloſſen? Laß jedwede Hottentottenſeele aufgelegt ſeyn, alle Jdeen anzunehmen, und laß ſie ſolche ſelbſtthaͤtig ſich bilden lernen koͤnnen, die Leibnitz Genie gefaſſet und geſchaffen hatte, unter der Bedingung, daß jene gehoͤrig angefuͤhret und ihr die dazu noͤthige Zeit gelaſſen werde, und daß ſie in ihrer Uebung auch beſtaͤndig fortfahre; laß dieß ſo ſeyn, aber wuͤrde ſie nicht, wie viele tauſend andere, in ihren Lehrjah- ren wegſterben? Die Schnecke kann dahin kommen, wohin der Hirſch lauft; nur in ihrem gegenwaͤrtigen Le- ben duͤrfte ihr die Zeit dazu leicht zu kurz ſeyn. Und auf dieſen Umſtand finde ich nicht, daß Helvetius bey ſo vielen Wendungen, die er ſeiner Lieblingshypotheſe ge- geben, Ruͤckſicht genommen habe. Eine ganz andere Sache iſt es, wenn von der Groͤße des Einfluſſes der aͤußern Umſtaͤnde auf die Verſchiedenheit der Koͤpfe die
Rede
<TEI><text><body><divn="1"><divn="2"><pbfacs="#f0841"n="781"/><fwplace="top"type="header"><hirendition="#b">zum eilften Verſuch.</hi></fw><lb/><p>Es muß einem hiebey freylich wohl <hirendition="#fr">Helvetius</hi> Mei-<lb/>
nung einfallen, der alle Menſchenſeelen, ſo wie ſie auf<lb/>
die Welt kommen, an Kopf und Herzen fuͤr einander<lb/>
gleich hielt und alle nachherige Verſchiedenheit als eine<lb/>
Wirkung der aͤußern Umſtaͤnde anſah. Wenn dieſe<lb/>
Meinung bewieſen waͤre, ſo ſcheinet es, die obige Jdee<lb/>
von dem Menſchengeſchlecht muͤſſe durchſtrichen werden.</p><lb/><p>Man kann zuerſt hierauf antworten, daß, ſo viele<lb/>
Muͤhe ſich <hirendition="#fr">Helvetius</hi> auch gegeben hat, die natuͤrliche<lb/>
Gleichheit der Koͤpfe zu beweiſen, ſo ſey und bleibe ſie<lb/>
unerwieſen, und unwahrſcheinlich, und habe die ganze<lb/>
Analogie der Natur gegen ſich. Jſt in allen einzelnen<lb/>
Pflanzenſaamen der Entwickelungstrieb von gleicher<lb/>
Staͤrke? Die Menſchenſeelen haben zwar als Weſen<lb/>
Eines Geſchlechts einerley Anlagen, und daraus folget,<lb/>
daß jedes Jndividuum eben das erlernen, und eben die<lb/>
moraliſchen Geſinnungen erlangen koͤnne, die der Kopf<lb/>
und das Herz eines jeden andern gefaſſet hat. Dieß iſt<lb/>
das Hauptargument des <hirendition="#fr">Helvetius,</hi> aber wie wird da-<lb/>
durch jede angebohrne Verſchiedenheit in der Groͤße<lb/>
und Staͤrke der Triebe ausgeſchloſſen? Laß jedwede<lb/>
Hottentottenſeele aufgelegt ſeyn, alle Jdeen anzunehmen,<lb/>
und laß ſie ſolche ſelbſtthaͤtig ſich bilden lernen koͤnnen,<lb/>
die <hirendition="#fr">Leibnitz</hi> Genie gefaſſet und geſchaffen hatte, unter<lb/>
der Bedingung, daß jene gehoͤrig angefuͤhret und ihr die<lb/>
dazu noͤthige Zeit gelaſſen werde, und daß ſie in ihrer<lb/>
Uebung auch beſtaͤndig fortfahre; laß dieß ſo ſeyn, aber<lb/>
wuͤrde ſie nicht, wie viele tauſend andere, in ihren Lehrjah-<lb/>
ren wegſterben? Die Schnecke kann dahin kommen,<lb/>
wohin der Hirſch lauft; nur in ihrem gegenwaͤrtigen Le-<lb/>
ben duͤrfte ihr die Zeit dazu leicht zu kurz ſeyn. Und<lb/>
auf dieſen Umſtand finde ich nicht, daß <hirendition="#fr">Helvetius</hi> bey<lb/>ſo vielen Wendungen, die er ſeiner Lieblingshypotheſe ge-<lb/>
geben, Ruͤckſicht genommen habe. Eine ganz andere<lb/>
Sache iſt es, wenn von der Groͤße des Einfluſſes der<lb/>
aͤußern Umſtaͤnde auf die Verſchiedenheit der Koͤpfe die<lb/><fwplace="bottom"type="catch">Rede</fw><lb/></p></div></div></body></text></TEI>
[781/0841]
zum eilften Verſuch.
Es muß einem hiebey freylich wohl Helvetius Mei-
nung einfallen, der alle Menſchenſeelen, ſo wie ſie auf
die Welt kommen, an Kopf und Herzen fuͤr einander
gleich hielt und alle nachherige Verſchiedenheit als eine
Wirkung der aͤußern Umſtaͤnde anſah. Wenn dieſe
Meinung bewieſen waͤre, ſo ſcheinet es, die obige Jdee
von dem Menſchengeſchlecht muͤſſe durchſtrichen werden.
Man kann zuerſt hierauf antworten, daß, ſo viele
Muͤhe ſich Helvetius auch gegeben hat, die natuͤrliche
Gleichheit der Koͤpfe zu beweiſen, ſo ſey und bleibe ſie
unerwieſen, und unwahrſcheinlich, und habe die ganze
Analogie der Natur gegen ſich. Jſt in allen einzelnen
Pflanzenſaamen der Entwickelungstrieb von gleicher
Staͤrke? Die Menſchenſeelen haben zwar als Weſen
Eines Geſchlechts einerley Anlagen, und daraus folget,
daß jedes Jndividuum eben das erlernen, und eben die
moraliſchen Geſinnungen erlangen koͤnne, die der Kopf
und das Herz eines jeden andern gefaſſet hat. Dieß iſt
das Hauptargument des Helvetius, aber wie wird da-
durch jede angebohrne Verſchiedenheit in der Groͤße
und Staͤrke der Triebe ausgeſchloſſen? Laß jedwede
Hottentottenſeele aufgelegt ſeyn, alle Jdeen anzunehmen,
und laß ſie ſolche ſelbſtthaͤtig ſich bilden lernen koͤnnen,
die Leibnitz Genie gefaſſet und geſchaffen hatte, unter
der Bedingung, daß jene gehoͤrig angefuͤhret und ihr die
dazu noͤthige Zeit gelaſſen werde, und daß ſie in ihrer
Uebung auch beſtaͤndig fortfahre; laß dieß ſo ſeyn, aber
wuͤrde ſie nicht, wie viele tauſend andere, in ihren Lehrjah-
ren wegſterben? Die Schnecke kann dahin kommen,
wohin der Hirſch lauft; nur in ihrem gegenwaͤrtigen Le-
ben duͤrfte ihr die Zeit dazu leicht zu kurz ſeyn. Und
auf dieſen Umſtand finde ich nicht, daß Helvetius bey
ſo vielen Wendungen, die er ſeiner Lieblingshypotheſe ge-
geben, Ruͤckſicht genommen habe. Eine ganz andere
Sache iſt es, wenn von der Groͤße des Einfluſſes der
aͤußern Umſtaͤnde auf die Verſchiedenheit der Koͤpfe die
Rede
Informationen zur CAB-Ansicht
Diese Ansicht bietet Ihnen die Darstellung des Textes in normalisierter Orthographie.
Diese Textvariante wird vollautomatisch erstellt und kann aufgrund dessen auch Fehler enthalten.
Alle veränderten Wortformen sind grau hinterlegt. Als fremdsprachliches Material erkannte
Textteile sind ausgegraut dargestellt.
Tetens, Johann Nicolas: Philosophische Versuche über die menschliche Natur und ihre Entwickelung. Bd. 1. Leipzig, 1777, S. 781. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/tetens_versuche01_1777/841>, abgerufen am 28.11.2024.
Alle Inhalte dieser Seite unterstehen, soweit nicht anders gekennzeichnet, einer
Creative-Commons-Lizenz.
Die Rechte an den angezeigten Bilddigitalisaten, soweit nicht anders gekennzeichnet, liegen bei den besitzenden Bibliotheken.
Weitere Informationen finden Sie in den DTA-Nutzungsbedingungen.
Insbesondere im Hinblick auf die §§ 86a StGB und 130 StGB wird festgestellt, dass die auf
diesen Seiten abgebildeten Inhalte weder in irgendeiner Form propagandistischen Zwecken
dienen, oder Werbung für verbotene Organisationen oder Vereinigungen darstellen, oder
nationalsozialistische Verbrechen leugnen oder verharmlosen, noch zum Zwecke der
Herabwürdigung der Menschenwürde gezeigt werden.
Die auf diesen Seiten abgebildeten Inhalte (in Wort und Bild) dienen im Sinne des
§ 86 StGB Abs. 3 ausschließlich historischen, sozial- oder kulturwissenschaftlichen
Forschungszwecken. Ihre Veröffentlichung erfolgt in der Absicht, Wissen zur Anregung
der intellektuellen Selbstständigkeit und Verantwortungsbereitschaft des Staatsbürgers zu
vermitteln und damit der Förderung seiner Mündigkeit zu dienen.
Zitierempfehlung: Deutsches Textarchiv. Grundlage für ein Referenzkorpus der neuhochdeutschen Sprache. Herausgegeben von der Berlin-Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften, Berlin 2024. URL: https://www.deutschestextarchiv.de/.