Tetens, Johann Nicolas: Philosophische Versuche über die menschliche Natur und ihre Entwickelung. Bd. 1. Leipzig, 1777.XI. Versuch. Ueber die Grundkraft kraft des Thiers, welche in der Seele, in der Organi-sation des Gehirns, und in dem äußern thierischen Kör- per, auch wohl in den äußern Ursachen vereiniget ist. Das Thier kann sich also wohl schneller perfektioniren, sich schneller Empfindungen aufsammeln, und mit Vor- stellungen erfüllen, weil seine körperlichen Nervenkräfte schneller wachsen und ihr Trieb zur Entwickelung in die- sem auch die Seele mit entwickelt, nicht aber weil das Princip in der Seele mächtiger treibet. Bey dem Menschen, wo die Seele mehr sich selbst durch ihre ei- gene Kraft entfalten soll, können die Entwickelungen im Ganzen wohl langsamer erfolgen, und ihre Wirkungen anfangs geringer seyn, obgleich die Seelenkraft selbst mehr arbeitet. Aber wenn man allein die Seelenhand- lungen mit einander vergleichet, so kann man es mit gu- tem Fug bezweifeln, daß die Menschenseele in der ersten Zeit des Lebens hinter den Thierseelen in ihren Vermö- gen zurück bleibe. Jn dem ersten Lächeln des Kindes fand Aristoteles schon mit Recht die Merkmale der Ver- nunft, und die Handlungen der meisten unter den völlig erwachsenen Thieren verrathen nicht soviel Vorstellungs- und Beziehungsvermögen, als die Mienen und Gebehr- den des Säuglings von vier Wochen, wenn er lächelt oder weinet. Die angebohrne Würde der Menschheit scheint in dem ersten Anblick des Kindes deutlich hervor- zuleuchten, da man in den künstlichsten Handlungen der Thiere nichts mehr als ein vernunftloses Thier siehet, das auch da, wo wir am meisten über seine Jnstinkte erstau- nen, nicht anders sich zeiget, als ein Wesen, dessen wunderbare Organisation zwar die Weisheit seines er- sten Urhebers darstellet, das aber selbst keine Bestre- bungen oder Thätigkeiten einer weisen und überlegenden Seele zu erkennen giebt. Was die Künste der abge- richteten Thiere betrift, so können solche noch weniger mit den menschlichen Handlungen des Kindes in Ver- glei-
XI. Verſuch. Ueber die Grundkraft kraft des Thiers, welche in der Seele, in der Organi-ſation des Gehirns, und in dem aͤußern thieriſchen Koͤr- per, auch wohl in den aͤußern Urſachen vereiniget iſt. Das Thier kann ſich alſo wohl ſchneller perfektioniren, ſich ſchneller Empfindungen aufſammeln, und mit Vor- ſtellungen erfuͤllen, weil ſeine koͤrperlichen Nervenkraͤfte ſchneller wachſen und ihr Trieb zur Entwickelung in die- ſem auch die Seele mit entwickelt, nicht aber weil das Princip in der Seele maͤchtiger treibet. Bey dem Menſchen, wo die Seele mehr ſich ſelbſt durch ihre ei- gene Kraft entfalten ſoll, koͤnnen die Entwickelungen im Ganzen wohl langſamer erfolgen, und ihre Wirkungen anfangs geringer ſeyn, obgleich die Seelenkraft ſelbſt mehr arbeitet. Aber wenn man allein die Seelenhand- lungen mit einander vergleichet, ſo kann man es mit gu- tem Fug bezweifeln, daß die Menſchenſeele in der erſten Zeit des Lebens hinter den Thierſeelen in ihren Vermoͤ- gen zuruͤck bleibe. Jn dem erſten Laͤcheln des Kindes fand Ariſtoteles ſchon mit Recht die Merkmale der Ver- nunft, und die Handlungen der meiſten unter den voͤllig erwachſenen Thieren verrathen nicht ſoviel Vorſtellungs- und Beziehungsvermoͤgen, als die Mienen und Gebehr- den des Saͤuglings von vier Wochen, wenn er laͤchelt oder weinet. Die angebohrne Wuͤrde der Menſchheit ſcheint in dem erſten Anblick des Kindes deutlich hervor- zuleuchten, da man in den kuͤnſtlichſten Handlungen der Thiere nichts mehr als ein vernunftloſes Thier ſiehet, das auch da, wo wir am meiſten uͤber ſeine Jnſtinkte erſtau- nen, nicht anders ſich zeiget, als ein Weſen, deſſen wunderbare Organiſation zwar die Weisheit ſeines er- ſten Urhebers darſtellet, das aber ſelbſt keine Beſtre- bungen oder Thaͤtigkeiten einer weiſen und uͤberlegenden Seele zu erkennen giebt. Was die Kuͤnſte der abge- richteten Thiere betrift, ſo koͤnnen ſolche noch weniger mit den menſchlichen Handlungen des Kindes in Ver- glei-
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XI. Verſuch. Ueber die Grundkraft
kraft des Thiers, welche in der Seele, in der Organi-
ſation des Gehirns, und in dem aͤußern thieriſchen Koͤr-
per, auch wohl in den aͤußern Urſachen vereiniget iſt.
Das Thier kann ſich alſo wohl ſchneller perfektioniren,
ſich ſchneller Empfindungen aufſammeln, und mit Vor-
ſtellungen erfuͤllen, weil ſeine koͤrperlichen Nervenkraͤfte
ſchneller wachſen und ihr Trieb zur Entwickelung in die-
ſem auch die Seele mit entwickelt, nicht aber weil das
Princip in der Seele maͤchtiger treibet. Bey dem
Menſchen, wo die Seele mehr ſich ſelbſt durch ihre ei-
gene Kraft entfalten ſoll, koͤnnen die Entwickelungen im
Ganzen wohl langſamer erfolgen, und ihre Wirkungen
anfangs geringer ſeyn, obgleich die Seelenkraft ſelbſt
mehr arbeitet. Aber wenn man allein die Seelenhand-
lungen mit einander vergleichet, ſo kann man es mit gu-
tem Fug bezweifeln, daß die Menſchenſeele in der erſten
Zeit des Lebens hinter den Thierſeelen in ihren Vermoͤ-
gen zuruͤck bleibe. Jn dem erſten Laͤcheln des Kindes
fand Ariſtoteles ſchon mit Recht die Merkmale der Ver-
nunft, und die Handlungen der meiſten unter den voͤllig
erwachſenen Thieren verrathen nicht ſoviel Vorſtellungs-
und Beziehungsvermoͤgen, als die Mienen und Gebehr-
den des Saͤuglings von vier Wochen, wenn er laͤchelt
oder weinet. Die angebohrne Wuͤrde der Menſchheit
ſcheint in dem erſten Anblick des Kindes deutlich hervor-
zuleuchten, da man in den kuͤnſtlichſten Handlungen der
Thiere nichts mehr als ein vernunftloſes Thier ſiehet, das
auch da, wo wir am meiſten uͤber ſeine Jnſtinkte erſtau-
nen, nicht anders ſich zeiget, als ein Weſen, deſſen
wunderbare Organiſation zwar die Weisheit ſeines er-
ſten Urhebers darſtellet, das aber ſelbſt keine Beſtre-
bungen oder Thaͤtigkeiten einer weiſen und uͤberlegenden
Seele zu erkennen giebt. Was die Kuͤnſte der abge-
richteten Thiere betrift, ſo koͤnnen ſolche noch weniger
mit den menſchlichen Handlungen des Kindes in Ver-
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