Stufenunterschied zufällig, veränderlich, oder natürlich und unabänderlich? Wenn dieß letztere ist, führt denn nicht eine nothwendige Einschränkung und eine wesentli- che Unfähigkeit, auf immer aus gewissen Gränzen her- auszugehen, nicht auf einen andern Mangel in der Na- tur zurück, der nicht wiederum nur in einem mindern Grade bestehet kann, sondern eine Qualität und eine Be- ziehung der Vermögen auf einander in der Urkraft, die wir nicht kennen, und also einen gänzlichen Mangel ei- ner absoluten Realität zum Grunde haben muß? oder ist bey der gänzlichen Einartigkeit der Urkräfte in den einfachen Wesen, die Leibnitz am lebhaftesten und am besten dachte, dennoch der Stufenunterscheid zwischen ihnen, den ihnen der Schöpfer vom Anfang ih- res Daseyns an mitgetheilet hat, von unendlicher Größe? so daß die Kluft zwischen dem niedern Wesen und den Wesen der höhern Gattung auch bey einem immer dau- ernden Fortschritt in der Entwickelung nicht zu überstei- gen ist? so daß das niedrige Wesen in seiner höchsten Stufe das höhere, so wie es in seiner niedrigsten ist, nimmermehr erreichen kann? Die mehresten Philoso- phen sehen den Unterscheid der Seelen für zufällig und veränderlich an, und schreiben ihn sogar nur den äußern Umständen und ihrer Lage in der Welt zu. Jch weis keine Gründe, womit ich dieß behaupten oder läugnen könnte.
Jst aber in dem neugebohrnen Menschen schon der bestimmte natürliche Vorzug vorhanden; so ist es auch außer Zweifel, daß die erste Aeußerung einer menschli- chen Seele, und ihr erstes Gefühl, von der ersten Aeu- ßerung und dem ersten Gefühl einer Thierseele unterschie- den seyn müsse. Jeder Eindruck wird dorten schon mehr verbreitet, tiefer eingezogen, und mit mehrerer Perfek- tibilität ergriffen, als hier; das heißt dorten ist die Em- pfindung menschlich, mit dem Anfang des Denkens verbunden, obgleich dieses noch unbemerkbar ist. Und
in
XI. Verſuch. Ueber die Grundkraft
Stufenunterſchied zufaͤllig, veraͤnderlich, oder natuͤrlich und unabaͤnderlich? Wenn dieß letztere iſt, fuͤhrt denn nicht eine nothwendige Einſchraͤnkung und eine weſentli- che Unfaͤhigkeit, auf immer aus gewiſſen Graͤnzen her- auszugehen, nicht auf einen andern Mangel in der Na- tur zuruͤck, der nicht wiederum nur in einem mindern Grade beſtehet kann, ſondern eine Qualitaͤt und eine Be- ziehung der Vermoͤgen auf einander in der Urkraft, die wir nicht kennen, und alſo einen gaͤnzlichen Mangel ei- ner abſoluten Realitaͤt zum Grunde haben muß? oder iſt bey der gaͤnzlichen Einartigkeit der Urkraͤfte in den einfachen Weſen, die Leibnitz am lebhafteſten und am beſten dachte, dennoch der Stufenunterſcheid zwiſchen ihnen, den ihnen der Schoͤpfer vom Anfang ih- res Daſeyns an mitgetheilet hat, von unendlicher Groͤße? ſo daß die Kluft zwiſchen dem niedern Weſen und den Weſen der hoͤhern Gattung auch bey einem immer dau- ernden Fortſchritt in der Entwickelung nicht zu uͤberſtei- gen iſt? ſo daß das niedrige Weſen in ſeiner hoͤchſten Stufe das hoͤhere, ſo wie es in ſeiner niedrigſten iſt, nimmermehr erreichen kann? Die mehreſten Philoſo- phen ſehen den Unterſcheid der Seelen fuͤr zufaͤllig und veraͤnderlich an, und ſchreiben ihn ſogar nur den aͤußern Umſtaͤnden und ihrer Lage in der Welt zu. Jch weis keine Gruͤnde, womit ich dieß behaupten oder laͤugnen koͤnnte.
Jſt aber in dem neugebohrnen Menſchen ſchon der beſtimmte natuͤrliche Vorzug vorhanden; ſo iſt es auch außer Zweifel, daß die erſte Aeußerung einer menſchli- chen Seele, und ihr erſtes Gefuͤhl, von der erſten Aeu- ßerung und dem erſten Gefuͤhl einer Thierſeele unterſchie- den ſeyn muͤſſe. Jeder Eindruck wird dorten ſchon mehr verbreitet, tiefer eingezogen, und mit mehrerer Perfek- tibilitaͤt ergriffen, als hier; das heißt dorten iſt die Em- pfindung menſchlich, mit dem Anfang des Denkens verbunden, obgleich dieſes noch unbemerkbar iſt. Und
in
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XI. Verſuch. Ueber die Grundkraft
Stufenunterſchied zufaͤllig, veraͤnderlich, oder natuͤrlich
und unabaͤnderlich? Wenn dieß letztere iſt, fuͤhrt denn
nicht eine nothwendige Einſchraͤnkung und eine weſentli-
che Unfaͤhigkeit, auf immer aus gewiſſen Graͤnzen her-
auszugehen, nicht auf einen andern Mangel in der Na-
tur zuruͤck, der nicht wiederum nur in einem mindern
Grade beſtehet kann, ſondern eine Qualitaͤt und eine Be-
ziehung der Vermoͤgen auf einander in der Urkraft, die
wir nicht kennen, und alſo einen gaͤnzlichen Mangel ei-
ner abſoluten Realitaͤt zum Grunde haben muß? oder iſt
bey der gaͤnzlichen Einartigkeit der Urkraͤfte in
den einfachen Weſen, die Leibnitz am lebhafteſten
und am beſten dachte, dennoch der Stufenunterſcheid
zwiſchen ihnen, den ihnen der Schoͤpfer vom Anfang ih-
res Daſeyns an mitgetheilet hat, von unendlicher Groͤße?
ſo daß die Kluft zwiſchen dem niedern Weſen und den
Weſen der hoͤhern Gattung auch bey einem immer dau-
ernden Fortſchritt in der Entwickelung nicht zu uͤberſtei-
gen iſt? ſo daß das niedrige Weſen in ſeiner hoͤchſten
Stufe das hoͤhere, ſo wie es in ſeiner niedrigſten iſt,
nimmermehr erreichen kann? Die mehreſten Philoſo-
phen ſehen den Unterſcheid der Seelen fuͤr zufaͤllig und
veraͤnderlich an, und ſchreiben ihn ſogar nur den aͤußern
Umſtaͤnden und ihrer Lage in der Welt zu. Jch weis keine
Gruͤnde, womit ich dieß behaupten oder laͤugnen koͤnnte.
Jſt aber in dem neugebohrnen Menſchen ſchon der
beſtimmte natuͤrliche Vorzug vorhanden; ſo iſt es auch
außer Zweifel, daß die erſte Aeußerung einer menſchli-
chen Seele, und ihr erſtes Gefuͤhl, von der erſten Aeu-
ßerung und dem erſten Gefuͤhl einer Thierſeele unterſchie-
den ſeyn muͤſſe. Jeder Eindruck wird dorten ſchon mehr
verbreitet, tiefer eingezogen, und mit mehrerer Perfek-
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Tetens, Johann Nicolas: Philosophische Versuche über die menschliche Natur und ihre Entwickelung. Bd. 1. Leipzig, 1777, S. 762. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/tetens_versuche01_1777/822>, abgerufen am 21.11.2024.
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