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Tetens, Johann Nicolas: Philosophische Versuche über die menschliche Natur und ihre Entwickelung. Bd. 1. Leipzig, 1777.

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der Vorstellungskraft etc.
Wirkung war. Daher auch derjenige, der niemals ei-
nen Pinsel geführet, noch solche Bewegungen mit der
Hand gemacht hat, dergleichen die Verfertigung eines
Gemäldes erfodert, sich keinen Begriff von einem her-
vorzubringenden
Gemälde machen, noch sich derglei-
chen zu verfertigen den Vorsatz fassen kann. Unmittel-
bar nämlich. Denn ein anders ist es, sich vorzuneh-
men, daß man sich zu einer Arbeit geschickt machen wolle,
und ein anders, diese Arbeit unmittelbar verrichten wol-
len. Die Materialien zu einem Vorsatz erfodern Jdeen
vorhergegangener Thätigkeiten, welche in der Verbin-
dung mit ihren Folgen reproduciret werden müssen.

Die leitende Vorstellung bestimmet also in unsern
willkührlichen Handlungen sowohl die Kräfte und Ver-
mögen, die wir anwenden sollen, als auch die Art der
Thätigkeit. Sie lehret, welche Saiten der Seele, und
auf welche Art sie gerühret werden sollen. Dieß erklä-
ret manche psychologische Erscheinungen. Z. B. Wenn
das Werkzeug der Stimme schon gelenksam genug ist,
um die einzelnen Theile der Töne anzugeben, so ist nichts
mehr nöthig, als daß der nachzusprechende Schall genau
mit dem Ohr aufgefasset werde. Jst alsdenn ein fester
Vorsatz da, ihn anzugeben, so geschicht es. Es ist eine
allgemeine Erfahrung: "wer einen Vorsatz vollstän-
"dig
fassen kann, ist auch im Stande, ihn auszuführen,
"woferne er mit Stetigkeit fortarbeitet, oder nicht äußere
"Hindernisse in den Weg treten." Ein Genie siehet
nur zu, wie ein anderer arbeitet, fasset alsdenn die Jdee
von der Arbeit selbst, entschließet sich, sie nachzumachen,
und siehe, er machts nach. Worinn bestehet der we-
sentlichste Theil der praktischen Anweisungen -- einige
Vorbereitungen für diejenigen ausgenommen, denen es
noch an vorher erforderlichen Fertigkeiten zu den Elemen-
tarhandlungen fehlet, von denen doch auch das nämliche
gilt, wenn man sie als einzelne Handlungen betrach-

tet?
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der Vorſtellungskraft ⁊c.
Wirkung war. Daher auch derjenige, der niemals ei-
nen Pinſel gefuͤhret, noch ſolche Bewegungen mit der
Hand gemacht hat, dergleichen die Verfertigung eines
Gemaͤldes erfodert, ſich keinen Begriff von einem her-
vorzubringenden
Gemaͤlde machen, noch ſich derglei-
chen zu verfertigen den Vorſatz faſſen kann. Unmittel-
bar naͤmlich. Denn ein anders iſt es, ſich vorzuneh-
men, daß man ſich zu einer Arbeit geſchickt machen wolle,
und ein anders, dieſe Arbeit unmittelbar verrichten wol-
len. Die Materialien zu einem Vorſatz erfodern Jdeen
vorhergegangener Thaͤtigkeiten, welche in der Verbin-
dung mit ihren Folgen reproduciret werden muͤſſen.

Die leitende Vorſtellung beſtimmet alſo in unſern
willkuͤhrlichen Handlungen ſowohl die Kraͤfte und Ver-
moͤgen, die wir anwenden ſollen, als auch die Art der
Thaͤtigkeit. Sie lehret, welche Saiten der Seele, und
auf welche Art ſie geruͤhret werden ſollen. Dieß erklaͤ-
ret manche pſychologiſche Erſcheinungen. Z. B. Wenn
das Werkzeug der Stimme ſchon gelenkſam genug iſt,
um die einzelnen Theile der Toͤne anzugeben, ſo iſt nichts
mehr noͤthig, als daß der nachzuſprechende Schall genau
mit dem Ohr aufgefaſſet werde. Jſt alsdenn ein feſter
Vorſatz da, ihn anzugeben, ſo geſchicht es. Es iſt eine
allgemeine Erfahrung: „wer einen Vorſatz vollſtaͤn-
„dig
faſſen kann, iſt auch im Stande, ihn auszufuͤhren,
„woferne er mit Stetigkeit fortarbeitet, oder nicht aͤußere
„Hinderniſſe in den Weg treten.“ Ein Genie ſiehet
nur zu, wie ein anderer arbeitet, faſſet alsdenn die Jdee
von der Arbeit ſelbſt, entſchließet ſich, ſie nachzumachen,
und ſiehe, er machts nach. Worinn beſtehet der we-
ſentlichſte Theil der praktiſchen Anweiſungen — einige
Vorbereitungen fuͤr diejenigen ausgenommen, denen es
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[697/0757] der Vorſtellungskraft ⁊c. Wirkung war. Daher auch derjenige, der niemals ei- nen Pinſel gefuͤhret, noch ſolche Bewegungen mit der Hand gemacht hat, dergleichen die Verfertigung eines Gemaͤldes erfodert, ſich keinen Begriff von einem her- vorzubringenden Gemaͤlde machen, noch ſich derglei- chen zu verfertigen den Vorſatz faſſen kann. Unmittel- bar naͤmlich. Denn ein anders iſt es, ſich vorzuneh- men, daß man ſich zu einer Arbeit geſchickt machen wolle, und ein anders, dieſe Arbeit unmittelbar verrichten wol- len. Die Materialien zu einem Vorſatz erfodern Jdeen vorhergegangener Thaͤtigkeiten, welche in der Verbin- dung mit ihren Folgen reproduciret werden muͤſſen. Die leitende Vorſtellung beſtimmet alſo in unſern willkuͤhrlichen Handlungen ſowohl die Kraͤfte und Ver- moͤgen, die wir anwenden ſollen, als auch die Art der Thaͤtigkeit. Sie lehret, welche Saiten der Seele, und auf welche Art ſie geruͤhret werden ſollen. Dieß erklaͤ- ret manche pſychologiſche Erſcheinungen. Z. B. Wenn das Werkzeug der Stimme ſchon gelenkſam genug iſt, um die einzelnen Theile der Toͤne anzugeben, ſo iſt nichts mehr noͤthig, als daß der nachzuſprechende Schall genau mit dem Ohr aufgefaſſet werde. Jſt alsdenn ein feſter Vorſatz da, ihn anzugeben, ſo geſchicht es. Es iſt eine allgemeine Erfahrung: „wer einen Vorſatz vollſtaͤn- „dig faſſen kann, iſt auch im Stande, ihn auszufuͤhren, „woferne er mit Stetigkeit fortarbeitet, oder nicht aͤußere „Hinderniſſe in den Weg treten.“ Ein Genie ſiehet nur zu, wie ein anderer arbeitet, faſſet alsdenn die Jdee von der Arbeit ſelbſt, entſchließet ſich, ſie nachzumachen, und ſiehe, er machts nach. Worinn beſtehet der we- ſentlichſte Theil der praktiſchen Anweiſungen — einige Vorbereitungen fuͤr diejenigen ausgenommen, denen es noch an vorher erforderlichen Fertigkeiten zu den Elemen- tarhandlungen fehlet, von denen doch auch das naͤmliche gilt, wenn man ſie als einzelne Handlungen betrach- tet? X x 5

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Zitationshilfe: Tetens, Johann Nicolas: Philosophische Versuche über die menschliche Natur und ihre Entwickelung. Bd. 1. Leipzig, 1777, S. 697. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/tetens_versuche01_1777/757>, abgerufen am 10.06.2024.