Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Tetens, Johann Nicolas: Philosophische Versuche über die menschliche Natur und ihre Entwickelung. Bd. 1. Leipzig, 1777.

Bild:
<< vorherige Seite

der Vorstellungskraft etc.
wie andrer Menschen ihre. So hat das Kind doch
wohl den sichtbaren Charakter des Weinens nicht kennen
gelernet. Und eben so unwahrscheinlich ist es, daß wir
aus dieser Vergleichung der sichtlichen Aehnlichkeit un-
sers Gähnens mit dem Gähnen anderer es sollten erler-
net haben, daß das, was wir sehen, mit dem, was
wir bey uns nur fühlen, dasselbige sey. Man kann sich
allerdings solcher Vergleichungen durch einen Sinn mit
Vortheil bedienen, und thut es auch oft, wenn man je-
mand sich selbst im Spiegel sehen läßt, um ihm zu zei-
gen, was zu einer guten Stellung des Körpers, oder
zu einer schönen Bewegung des Leibes gehöret, die man
mit einem gewissen Worte bezeichnet.

Aber dieses Mittel ist nicht nothwendig, und wird
oft gar nicht einmal zu Hülfe genommen. Der Weg
der Natur ist kürzer. Das Kind weinet; man sagt
ihm, es weine, und bezeichnet seine Aktion durch ein
Wort. Eben dieß Kind sieht einen andern weinen,
und man sagt ihm wiederum, dieser Mensch weine.
Dieß ist genug. Das ähnliche Wort lehrt es die Aehn-
lichkeit der Handlungen, der seinigen, die es nur fühlt,
und der fremden, die es sieht. Erblickt es jenes Wei-
nen, so nennt es dieß ein Weinen, und seine eigene
Gefühlsidee von dem Weinen wird mit dieser sichtli-
chen
Jdee vereiniget. Die letztere wird ein Bestand-
theil und also auch ein Merkmal der ganzen Vorstellung.

Darum kann der Mensch mittelst der Worte als
ähnlicher Töne, mehrere Empfindungen in Eine Jdee
vereinigen, und auch ähnliche Sachen an mehrern Merk-
malen erkennen, die sonsten in seinen Empfindungen,
welche er von ihnen einzeln hat, so verschieden sind, daß
er schwerlich dadurch auf die Aehnlichkeit der Sachen
selbst geführet seyn würde.

Dieß giebt auch seinem Nachbildungsvermögen
eine
größere Ausdehnung, nämlich dem Vermögen

etwas

der Vorſtellungskraft ⁊c.
wie andrer Menſchen ihre. So hat das Kind doch
wohl den ſichtbaren Charakter des Weinens nicht kennen
gelernet. Und eben ſo unwahrſcheinlich iſt es, daß wir
aus dieſer Vergleichung der ſichtlichen Aehnlichkeit un-
ſers Gaͤhnens mit dem Gaͤhnen anderer es ſollten erler-
net haben, daß das, was wir ſehen, mit dem, was
wir bey uns nur fuͤhlen, daſſelbige ſey. Man kann ſich
allerdings ſolcher Vergleichungen durch einen Sinn mit
Vortheil bedienen, und thut es auch oft, wenn man je-
mand ſich ſelbſt im Spiegel ſehen laͤßt, um ihm zu zei-
gen, was zu einer guten Stellung des Koͤrpers, oder
zu einer ſchoͤnen Bewegung des Leibes gehoͤret, die man
mit einem gewiſſen Worte bezeichnet.

Aber dieſes Mittel iſt nicht nothwendig, und wird
oft gar nicht einmal zu Huͤlfe genommen. Der Weg
der Natur iſt kuͤrzer. Das Kind weinet; man ſagt
ihm, es weine, und bezeichnet ſeine Aktion durch ein
Wort. Eben dieß Kind ſieht einen andern weinen,
und man ſagt ihm wiederum, dieſer Menſch weine.
Dieß iſt genug. Das aͤhnliche Wort lehrt es die Aehn-
lichkeit der Handlungen, der ſeinigen, die es nur fuͤhlt,
und der fremden, die es ſieht. Erblickt es jenes Wei-
nen, ſo nennt es dieß ein Weinen, und ſeine eigene
Gefuͤhlsidee von dem Weinen wird mit dieſer ſichtli-
chen
Jdee vereiniget. Die letztere wird ein Beſtand-
theil und alſo auch ein Merkmal der ganzen Vorſtellung.

Darum kann der Menſch mittelſt der Worte als
aͤhnlicher Toͤne, mehrere Empfindungen in Eine Jdee
vereinigen, und auch aͤhnliche Sachen an mehrern Merk-
malen erkennen, die ſonſten in ſeinen Empfindungen,
welche er von ihnen einzeln hat, ſo verſchieden ſind, daß
er ſchwerlich dadurch auf die Aehnlichkeit der Sachen
ſelbſt gefuͤhret ſeyn wuͤrde.

Dieß giebt auch ſeinem Nachbildungsvermoͤgen
eine
groͤßere Ausdehnung, naͤmlich dem Vermoͤgen

etwas
<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <div n="2">
          <div n="3">
            <p><pb facs="#f0729" n="669"/><fw place="top" type="header"><hi rendition="#b">der Vor&#x017F;tellungskraft &#x204A;c.</hi></fw><lb/>
wie andrer Men&#x017F;chen ihre. So hat das Kind doch<lb/>
wohl den &#x017F;ichtbaren Charakter des Weinens nicht kennen<lb/>
gelernet. Und eben &#x017F;o unwahr&#x017F;cheinlich i&#x017F;t es, daß wir<lb/>
aus die&#x017F;er Vergleichung der &#x017F;ichtlichen Aehnlichkeit un-<lb/>
&#x017F;ers Ga&#x0364;hnens mit dem Ga&#x0364;hnen anderer es &#x017F;ollten erler-<lb/>
net haben, daß das, was wir &#x017F;ehen, mit dem, was<lb/>
wir bey uns nur fu&#x0364;hlen, da&#x017F;&#x017F;elbige &#x017F;ey. Man kann &#x017F;ich<lb/>
allerdings &#x017F;olcher Vergleichungen durch einen Sinn mit<lb/>
Vortheil bedienen, und thut es auch oft, wenn man je-<lb/>
mand &#x017F;ich &#x017F;elb&#x017F;t im Spiegel &#x017F;ehen la&#x0364;ßt, um ihm zu zei-<lb/>
gen, was zu einer guten Stellung des Ko&#x0364;rpers, oder<lb/>
zu einer &#x017F;cho&#x0364;nen Bewegung des Leibes geho&#x0364;ret, die man<lb/>
mit einem gewi&#x017F;&#x017F;en Worte bezeichnet.</p><lb/>
            <p>Aber die&#x017F;es Mittel i&#x017F;t nicht nothwendig, und wird<lb/>
oft gar nicht einmal zu Hu&#x0364;lfe genommen. Der Weg<lb/>
der Natur i&#x017F;t ku&#x0364;rzer. Das Kind weinet; man &#x017F;agt<lb/>
ihm, es <hi rendition="#fr">weine,</hi> und bezeichnet &#x017F;eine Aktion durch ein<lb/>
Wort. Eben dieß Kind &#x017F;ieht einen andern <hi rendition="#fr">weinen,</hi><lb/>
und man &#x017F;agt ihm wiederum, die&#x017F;er Men&#x017F;ch <hi rendition="#fr">weine.</hi><lb/>
Dieß i&#x017F;t genug. Das a&#x0364;hnliche Wort lehrt es die Aehn-<lb/>
lichkeit der Handlungen, der &#x017F;einigen, die es nur fu&#x0364;hlt,<lb/>
und der fremden, die es &#x017F;ieht. Erblickt es jenes Wei-<lb/>
nen, &#x017F;o nennt es dieß ein Weinen, und &#x017F;eine eigene<lb/><hi rendition="#fr">Gefu&#x0364;hlsidee</hi> von dem Weinen wird mit die&#x017F;er <hi rendition="#fr">&#x017F;ichtli-<lb/>
chen</hi> Jdee vereiniget. Die letztere wird ein Be&#x017F;tand-<lb/>
theil und al&#x017F;o auch ein Merkmal der ganzen Vor&#x017F;tellung.</p><lb/>
            <p>Darum kann der Men&#x017F;ch mittel&#x017F;t der Worte als<lb/>
a&#x0364;hnlicher To&#x0364;ne, mehrere Empfindungen in Eine Jdee<lb/>
vereinigen, und auch a&#x0364;hnliche Sachen an mehrern Merk-<lb/>
malen erkennen, die &#x017F;on&#x017F;ten in &#x017F;einen Empfindungen,<lb/>
welche er von ihnen einzeln hat, &#x017F;o ver&#x017F;chieden &#x017F;ind, daß<lb/>
er &#x017F;chwerlich dadurch auf die Aehnlichkeit der Sachen<lb/>
&#x017F;elb&#x017F;t gefu&#x0364;hret &#x017F;eyn wu&#x0364;rde.</p><lb/>
            <p>Dieß giebt auch &#x017F;einem <hi rendition="#fr">Nachbildungsvermo&#x0364;gen<lb/>
eine</hi> gro&#x0364;ßere Ausdehnung, na&#x0364;mlich dem Vermo&#x0364;gen<lb/>
<fw place="bottom" type="catch">etwas</fw><lb/></p>
          </div>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[669/0729] der Vorſtellungskraft ⁊c. wie andrer Menſchen ihre. So hat das Kind doch wohl den ſichtbaren Charakter des Weinens nicht kennen gelernet. Und eben ſo unwahrſcheinlich iſt es, daß wir aus dieſer Vergleichung der ſichtlichen Aehnlichkeit un- ſers Gaͤhnens mit dem Gaͤhnen anderer es ſollten erler- net haben, daß das, was wir ſehen, mit dem, was wir bey uns nur fuͤhlen, daſſelbige ſey. Man kann ſich allerdings ſolcher Vergleichungen durch einen Sinn mit Vortheil bedienen, und thut es auch oft, wenn man je- mand ſich ſelbſt im Spiegel ſehen laͤßt, um ihm zu zei- gen, was zu einer guten Stellung des Koͤrpers, oder zu einer ſchoͤnen Bewegung des Leibes gehoͤret, die man mit einem gewiſſen Worte bezeichnet. Aber dieſes Mittel iſt nicht nothwendig, und wird oft gar nicht einmal zu Huͤlfe genommen. Der Weg der Natur iſt kuͤrzer. Das Kind weinet; man ſagt ihm, es weine, und bezeichnet ſeine Aktion durch ein Wort. Eben dieß Kind ſieht einen andern weinen, und man ſagt ihm wiederum, dieſer Menſch weine. Dieß iſt genug. Das aͤhnliche Wort lehrt es die Aehn- lichkeit der Handlungen, der ſeinigen, die es nur fuͤhlt, und der fremden, die es ſieht. Erblickt es jenes Wei- nen, ſo nennt es dieß ein Weinen, und ſeine eigene Gefuͤhlsidee von dem Weinen wird mit dieſer ſichtli- chen Jdee vereiniget. Die letztere wird ein Beſtand- theil und alſo auch ein Merkmal der ganzen Vorſtellung. Darum kann der Menſch mittelſt der Worte als aͤhnlicher Toͤne, mehrere Empfindungen in Eine Jdee vereinigen, und auch aͤhnliche Sachen an mehrern Merk- malen erkennen, die ſonſten in ſeinen Empfindungen, welche er von ihnen einzeln hat, ſo verſchieden ſind, daß er ſchwerlich dadurch auf die Aehnlichkeit der Sachen ſelbſt gefuͤhret ſeyn wuͤrde. Dieß giebt auch ſeinem Nachbildungsvermoͤgen eine groͤßere Ausdehnung, naͤmlich dem Vermoͤgen etwas

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien im Double-Keying-Verfahren von Nicht-Muttersprachlern erfasst und in XML/TEI P5 nach DTA-Basisformat kodiert.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/tetens_versuche01_1777
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/tetens_versuche01_1777/729
Zitationshilfe: Tetens, Johann Nicolas: Philosophische Versuche über die menschliche Natur und ihre Entwickelung. Bd. 1. Leipzig, 1777, S. 669. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/tetens_versuche01_1777/729>, abgerufen am 22.11.2024.