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Tetens, Johann Nicolas: Philosophische Versuche über die menschliche Natur und ihre Entwickelung. Bd. 1. Leipzig, 1777.

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X. Versuch. Ueber die Beziehung
gen, wenn ich nicht wüßte, was solche sichtliche Bewe-
gungen bedeuten, oder was sie eigentlich für Handlun-
gen mit den Gliedern sind? Woher sollte ich aber dieß
wissen, wenn das Anschauen dieser Bewegungen bey an-
dern nicht eine Vorstellung von ähnlichen bewegenden
Thätigkeiten in mir hervorbrächte, und diese wegen ihrer
physischen Verbindung mit der Aktion des Gähnens,
dessen Wirkungen sie sind, auch in mir die Vorstellung
von der Aktion des Gähnens erregen, und dadurch meine
Disposition zum Gähnen erwecken? Einmal muß ich
wissen, daß der, der den Mund aussperret, den Athem
stark an sich ziehet, die Hand vor dem Mund hält, den
Kopf zurückzieht, und so ferner, das thut, was ich thue,
wenn ich gähne. Und dann muß ich aus dem, was ich
sehe, die genannten Bewegungen erkennen. Die Jdee
von dem Gähnen eines andern ersodert eine Verglei-
chung. Wir denken und sagen, es ist ein Gähnen, da
wir nur die sichtbare Seite der Aktion vor uns haben.
Diese letztere ist also der Charakter eines Zustandes, von
dem nur eine Jdee aus eigenem Gefühl möglich ist. Oh-
ne diesen Charakter einmal in Verbindung mit dem Ge-
fühl der Sache selbst gehabt zu haben, kann er nicht wis-
sen, daß jenes ein Merkmal von ihr sey, hier haben
wir also die Seite, an der die Handlung eines fremden
für eine ähnliche mit der unsrigen erkannt werden kann.
Die sichtliche Vorstellung von beiden ist dieselbige. Jch
sehe die körperliche Bewegung des andern so, wie meine
eigene. Dieß erwecket bey mir die Jdee von derselbigen
Handlung, die ein anderer vornimmt.

Diese Erklärung würde ungemein mangelhaft seyn,
wenn sie nicht durch einen Zusatz verstärket würde. Das
Kind sollte daher wissen, daß seine Mutter weinet, weil
man es etwann vor dem Spiegel gestellet hat, zu der
Zeit, da es selbst Thränen vergoß, und es dadurch
belehret, daß seine weinerliche Miene eben so aussieht,

wie

X. Verſuch. Ueber die Beziehung
gen, wenn ich nicht wuͤßte, was ſolche ſichtliche Bewe-
gungen bedeuten, oder was ſie eigentlich fuͤr Handlun-
gen mit den Gliedern ſind? Woher ſollte ich aber dieß
wiſſen, wenn das Anſchauen dieſer Bewegungen bey an-
dern nicht eine Vorſtellung von aͤhnlichen bewegenden
Thaͤtigkeiten in mir hervorbraͤchte, und dieſe wegen ihrer
phyſiſchen Verbindung mit der Aktion des Gaͤhnens,
deſſen Wirkungen ſie ſind, auch in mir die Vorſtellung
von der Aktion des Gaͤhnens erregen, und dadurch meine
Dispoſition zum Gaͤhnen erwecken? Einmal muß ich
wiſſen, daß der, der den Mund auſſperret, den Athem
ſtark an ſich ziehet, die Hand vor dem Mund haͤlt, den
Kopf zuruͤckzieht, und ſo ferner, das thut, was ich thue,
wenn ich gaͤhne. Und dann muß ich aus dem, was ich
ſehe, die genannten Bewegungen erkennen. Die Jdee
von dem Gaͤhnen eines andern erſodert eine Verglei-
chung. Wir denken und ſagen, es iſt ein Gaͤhnen, da
wir nur die ſichtbare Seite der Aktion vor uns haben.
Dieſe letztere iſt alſo der Charakter eines Zuſtandes, von
dem nur eine Jdee aus eigenem Gefuͤhl moͤglich iſt. Oh-
ne dieſen Charakter einmal in Verbindung mit dem Ge-
fuͤhl der Sache ſelbſt gehabt zu haben, kann er nicht wiſ-
ſen, daß jenes ein Merkmal von ihr ſey, hier haben
wir alſo die Seite, an der die Handlung eines fremden
fuͤr eine aͤhnliche mit der unſrigen erkannt werden kann.
Die ſichtliche Vorſtellung von beiden iſt dieſelbige. Jch
ſehe die koͤrperliche Bewegung des andern ſo, wie meine
eigene. Dieß erwecket bey mir die Jdee von derſelbigen
Handlung, die ein anderer vornimmt.

Dieſe Erklaͤrung wuͤrde ungemein mangelhaft ſeyn,
wenn ſie nicht durch einen Zuſatz verſtaͤrket wuͤrde. Das
Kind ſollte daher wiſſen, daß ſeine Mutter weinet, weil
man es etwann vor dem Spiegel geſtellet hat, zu der
Zeit, da es ſelbſt Thraͤnen vergoß, und es dadurch
belehret, daß ſeine weinerliche Miene eben ſo ausſieht,

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[668/0728] X. Verſuch. Ueber die Beziehung gen, wenn ich nicht wuͤßte, was ſolche ſichtliche Bewe- gungen bedeuten, oder was ſie eigentlich fuͤr Handlun- gen mit den Gliedern ſind? Woher ſollte ich aber dieß wiſſen, wenn das Anſchauen dieſer Bewegungen bey an- dern nicht eine Vorſtellung von aͤhnlichen bewegenden Thaͤtigkeiten in mir hervorbraͤchte, und dieſe wegen ihrer phyſiſchen Verbindung mit der Aktion des Gaͤhnens, deſſen Wirkungen ſie ſind, auch in mir die Vorſtellung von der Aktion des Gaͤhnens erregen, und dadurch meine Dispoſition zum Gaͤhnen erwecken? Einmal muß ich wiſſen, daß der, der den Mund auſſperret, den Athem ſtark an ſich ziehet, die Hand vor dem Mund haͤlt, den Kopf zuruͤckzieht, und ſo ferner, das thut, was ich thue, wenn ich gaͤhne. Und dann muß ich aus dem, was ich ſehe, die genannten Bewegungen erkennen. Die Jdee von dem Gaͤhnen eines andern erſodert eine Verglei- chung. Wir denken und ſagen, es iſt ein Gaͤhnen, da wir nur die ſichtbare Seite der Aktion vor uns haben. Dieſe letztere iſt alſo der Charakter eines Zuſtandes, von dem nur eine Jdee aus eigenem Gefuͤhl moͤglich iſt. Oh- ne dieſen Charakter einmal in Verbindung mit dem Ge- fuͤhl der Sache ſelbſt gehabt zu haben, kann er nicht wiſ- ſen, daß jenes ein Merkmal von ihr ſey, hier haben wir alſo die Seite, an der die Handlung eines fremden fuͤr eine aͤhnliche mit der unſrigen erkannt werden kann. Die ſichtliche Vorſtellung von beiden iſt dieſelbige. Jch ſehe die koͤrperliche Bewegung des andern ſo, wie meine eigene. Dieß erwecket bey mir die Jdee von derſelbigen Handlung, die ein anderer vornimmt. Dieſe Erklaͤrung wuͤrde ungemein mangelhaft ſeyn, wenn ſie nicht durch einen Zuſatz verſtaͤrket wuͤrde. Das Kind ſollte daher wiſſen, daß ſeine Mutter weinet, weil man es etwann vor dem Spiegel geſtellet hat, zu der Zeit, da es ſelbſt Thraͤnen vergoß, und es dadurch belehret, daß ſeine weinerliche Miene eben ſo ausſieht, wie

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Zitationshilfe: Tetens, Johann Nicolas: Philosophische Versuche über die menschliche Natur und ihre Entwickelung. Bd. 1. Leipzig, 1777, S. 668. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/tetens_versuche01_1777/728>, abgerufen am 22.11.2024.