und ein noch größerer Grad desselben ist, als die Fertig- keit, sich die Handlung vorzustellen. Die letztere ist eine Fertigkeit der Phantasie, ein Phantasma hervorzu- bringen; die erstere eine Fertigkeit, das Phantasma bis zur Lebhaftigkeit der Empfindungen auszubilden.
Die Fertigkeit zu handeln erfodert zugleich auch eine Fertigkeit, leidend die Wirkungen der Aktionen und an- dre Eindrücke, von denen die Kraft gereizet wird, auf- zunehmen und zu fühlen. Das heißt, es muß auch in dem passiven Gefühl eine Leichtigkeit zu gewissen Modi- fikationen und Rührungen erzeuget werden. Laßt uns alles in einem Beyspiel sehen. Wer fertig auf dem Kla- vier spielet, kann 1) die Noten geschwinde in ihrer Rei- he gewahrnehmen. Wenn man geschwinde lieset, so überschläget man viele Buchstaben und Sylben. Em- pfinden wir nur den ersten Anfang eines Worts, so bil- det die Phantasie das ganze Wort aus. Das nämliche geschicht bey den Noten. Es sind also diese Vorstellun- gen nur zum Theil Empfindungen, und werden völlig ausgebildet durch die Phantasie. Die Noten selbst brau- chen nicht einmal vor Augen zu liegen. Bekannte Stü- cke spielt man aus dem Kopf. Es wirken 2) in dem Jnnern die Empfindnisse, das Gefallen oder Misfallen, und dann sind diese Gemüthsbewegungen nur zum Theil neue Wirkungen jener Eindrücke, und bestehen größten- theils in wiedererweckten Dispositionen aus vorhergegan- genen Empfindnissen. Dann entstehen 3) die thätigen Kraftanwendungen, die Bewegungen der Finger, in dem Spieler, die nicht minder nur in Hinsicht eines Theils durch die gegenwärtige Empfindungen von neuem erreget werden, zum Theil aber Reproduktionen sind, die aus vorhergegangenen hinterlassenen Dispositionen ent- springen, und also auf die Stärke in der Kraft beruhen, womit sie die Vorstellungen von den Spielsthätigkeiten erneuern könne. Alles was in einer neuen Anwendung
der
X. Verſuch. Ueber die Beziehung
und ein noch groͤßerer Grad deſſelben iſt, als die Fertig- keit, ſich die Handlung vorzuſtellen. Die letztere iſt eine Fertigkeit der Phantaſie, ein Phantasma hervorzu- bringen; die erſtere eine Fertigkeit, das Phantasma bis zur Lebhaftigkeit der Empfindungen auszubilden.
Die Fertigkeit zu handeln erfodert zugleich auch eine Fertigkeit, leidend die Wirkungen der Aktionen und an- dre Eindruͤcke, von denen die Kraft gereizet wird, auf- zunehmen und zu fuͤhlen. Das heißt, es muß auch in dem paſſiven Gefuͤhl eine Leichtigkeit zu gewiſſen Modi- fikationen und Ruͤhrungen erzeuget werden. Laßt uns alles in einem Beyſpiel ſehen. Wer fertig auf dem Kla- vier ſpielet, kann 1) die Noten geſchwinde in ihrer Rei- he gewahrnehmen. Wenn man geſchwinde lieſet, ſo uͤberſchlaͤget man viele Buchſtaben und Sylben. Em- pfinden wir nur den erſten Anfang eines Worts, ſo bil- det die Phantaſie das ganze Wort aus. Das naͤmliche geſchicht bey den Noten. Es ſind alſo dieſe Vorſtellun- gen nur zum Theil Empfindungen, und werden voͤllig ausgebildet durch die Phantaſie. Die Noten ſelbſt brau- chen nicht einmal vor Augen zu liegen. Bekannte Stuͤ- cke ſpielt man aus dem Kopf. Es wirken 2) in dem Jnnern die Empfindniſſe, das Gefallen oder Misfallen, und dann ſind dieſe Gemuͤthsbewegungen nur zum Theil neue Wirkungen jener Eindruͤcke, und beſtehen groͤßten- theils in wiedererweckten Dispoſitionen aus vorhergegan- genen Empfindniſſen. Dann entſtehen 3) die thaͤtigen Kraftanwendungen, die Bewegungen der Finger, in dem Spieler, die nicht minder nur in Hinſicht eines Theils durch die gegenwaͤrtige Empfindungen von neuem erreget werden, zum Theil aber Reproduktionen ſind, die aus vorhergegangenen hinterlaſſenen Dispoſitionen ent- ſpringen, und alſo auf die Staͤrke in der Kraft beruhen, womit ſie die Vorſtellungen von den Spielsthaͤtigkeiten erneuern koͤnne. Alles was in einer neuen Anwendung
der
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X. Verſuch. Ueber die Beziehung
und ein noch groͤßerer Grad deſſelben iſt, als die Fertig-
keit, ſich die Handlung vorzuſtellen. Die letztere iſt
eine Fertigkeit der Phantaſie, ein Phantasma hervorzu-
bringen; die erſtere eine Fertigkeit, das Phantasma bis
zur Lebhaftigkeit der Empfindungen auszubilden.
Die Fertigkeit zu handeln erfodert zugleich auch eine
Fertigkeit, leidend die Wirkungen der Aktionen und an-
dre Eindruͤcke, von denen die Kraft gereizet wird, auf-
zunehmen und zu fuͤhlen. Das heißt, es muß auch in
dem paſſiven Gefuͤhl eine Leichtigkeit zu gewiſſen Modi-
fikationen und Ruͤhrungen erzeuget werden. Laßt uns
alles in einem Beyſpiel ſehen. Wer fertig auf dem Kla-
vier ſpielet, kann 1) die Noten geſchwinde in ihrer Rei-
he gewahrnehmen. Wenn man geſchwinde lieſet, ſo
uͤberſchlaͤget man viele Buchſtaben und Sylben. Em-
pfinden wir nur den erſten Anfang eines Worts, ſo bil-
det die Phantaſie das ganze Wort aus. Das naͤmliche
geſchicht bey den Noten. Es ſind alſo dieſe Vorſtellun-
gen nur zum Theil Empfindungen, und werden voͤllig
ausgebildet durch die Phantaſie. Die Noten ſelbſt brau-
chen nicht einmal vor Augen zu liegen. Bekannte Stuͤ-
cke ſpielt man aus dem Kopf. Es wirken 2) in dem
Jnnern die Empfindniſſe, das Gefallen oder Misfallen,
und dann ſind dieſe Gemuͤthsbewegungen nur zum Theil
neue Wirkungen jener Eindruͤcke, und beſtehen groͤßten-
theils in wiedererweckten Dispoſitionen aus vorhergegan-
genen Empfindniſſen. Dann entſtehen 3) die thaͤtigen
Kraftanwendungen, die Bewegungen der Finger, in
dem Spieler, die nicht minder nur in Hinſicht eines
Theils durch die gegenwaͤrtige Empfindungen von neuem
erreget werden, zum Theil aber Reproduktionen ſind, die
aus vorhergegangenen hinterlaſſenen Dispoſitionen ent-
ſpringen, und alſo auf die Staͤrke in der Kraft beruhen,
womit ſie die Vorſtellungen von den Spielsthaͤtigkeiten
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Tetens, Johann Nicolas: Philosophische Versuche über die menschliche Natur und ihre Entwickelung. Bd. 1. Leipzig, 1777, S. 656. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/tetens_versuche01_1777/716>, abgerufen am 22.11.2024.
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