"von Handlungen besitzen, so wenig aufgeleget sind, sol- "che deutlich zu beschreiben, und umgekehrt, daß die, "welche sie lebhaft beschreiben können, oftmals keine be- "sondere Stärke besitzen, sie auszuüben?" Warum hat man nur allzuoft Ursache, dem, der von der Tugend, der Frömmigkeit, von der Regierungskunst, von der Beherrschung seiner selbst, u. s. f. sehr lebhaft deklami- ret, wenige praktische Stärke darinn zuzutrauen?
Diese Frage scheinet etwas paradoxes zu sagen. Kei- ner kann eine Vorstellung von einer Handlung baben, die er nicht selbst ausgeübt hat, entweder zusammen in ihrem Ganzen, oder nach ihren einzelnen Theilen. Wenn also die Vorstellung von einer Tugend bey jemanden leb- haft ist, so muß zum mindesten ein Anfang dieser Fertig- keit vorhanden seyn. Wer eine Rührung des Herzens darstellen soll, muß ja selbst gerühret seyn; und muß nicht auch das Herz von tugendhaften Gesinnungen wal- len, wenn der Verstand solche deutlich denken, und die Phantasie sie in ihren Wirkungen lebhaft fassen soll? Eine starke volle Beschreibung der Tugend sollte also ein günstiges Vorurtheil für den Redner oder Poeten erwe- cken, der sie schildert. Warum also ein nachtheiliges, wie in der Frage angenommen wird, und wie die Er- fahrung es lehret?
Zum voraus bitte ich, man erinnere sich, daß diese Regel zu der Physiognomie der Geister gehöre, und be- hüte der Himmel! daß ich eine einzige derselben für so allgemein richtig anerkennen sollte, daß keine Ausnahme gestattet würde. Selten sind doch die Heldenseelen, die zugleich das Jnnere ihrer Thaten beschreiben, selten die starken Denker, die die Schritte ihrer Denkkraft deut- lich angeben; selten die Virtuosen in der Kunst, welche zugleich die besten Anweisungen zur Ausübung ertheilen! Wenn sie es thun, so haben ihre Beschreibungen auch einen eigenen Charakter.
Jede
der Vorſtellungskraft ⁊c.
„von Handlungen beſitzen, ſo wenig aufgeleget ſind, ſol- „che deutlich zu beſchreiben, und umgekehrt, daß die, „welche ſie lebhaft beſchreiben koͤnnen, oftmals keine be- „ſondere Staͤrke beſitzen, ſie auszuuͤben?‟ Warum hat man nur allzuoft Urſache, dem, der von der Tugend, der Froͤmmigkeit, von der Regierungskunſt, von der Beherrſchung ſeiner ſelbſt, u. ſ. f. ſehr lebhaft deklami- ret, wenige praktiſche Staͤrke darinn zuzutrauen?
Dieſe Frage ſcheinet etwas paradoxes zu ſagen. Kei- ner kann eine Vorſtellung von einer Handlung baben, die er nicht ſelbſt ausgeuͤbt hat, entweder zuſammen in ihrem Ganzen, oder nach ihren einzelnen Theilen. Wenn alſo die Vorſtellung von einer Tugend bey jemanden leb- haft iſt, ſo muß zum mindeſten ein Anfang dieſer Fertig- keit vorhanden ſeyn. Wer eine Ruͤhrung des Herzens darſtellen ſoll, muß ja ſelbſt geruͤhret ſeyn; und muß nicht auch das Herz von tugendhaften Geſinnungen wal- len, wenn der Verſtand ſolche deutlich denken, und die Phantaſie ſie in ihren Wirkungen lebhaft faſſen ſoll? Eine ſtarke volle Beſchreibung der Tugend ſollte alſo ein guͤnſtiges Vorurtheil fuͤr den Redner oder Poeten erwe- cken, der ſie ſchildert. Warum alſo ein nachtheiliges, wie in der Frage angenommen wird, und wie die Er- fahrung es lehret?
Zum voraus bitte ich, man erinnere ſich, daß dieſe Regel zu der Phyſiognomie der Geiſter gehoͤre, und be- huͤte der Himmel! daß ich eine einzige derſelben fuͤr ſo allgemein richtig anerkennen ſollte, daß keine Ausnahme geſtattet wuͤrde. Selten ſind doch die Heldenſeelen, die zugleich das Jnnere ihrer Thaten beſchreiben, ſelten die ſtarken Denker, die die Schritte ihrer Denkkraft deut- lich angeben; ſelten die Virtuoſen in der Kunſt, welche zugleich die beſten Anweiſungen zur Ausuͤbung ertheilen! Wenn ſie es thun, ſo haben ihre Beſchreibungen auch einen eigenen Charakter.
Jede
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der Vorſtellungskraft ⁊c.
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„che deutlich zu beſchreiben, und umgekehrt, daß die,
„welche ſie lebhaft beſchreiben koͤnnen, oftmals keine be-
„ſondere Staͤrke beſitzen, ſie auszuuͤben?‟ Warum
hat man nur allzuoft Urſache, dem, der von der Tugend,
der Froͤmmigkeit, von der Regierungskunſt, von der
Beherrſchung ſeiner ſelbſt, u. ſ. f. ſehr lebhaft deklami-
ret, wenige praktiſche Staͤrke darinn zuzutrauen?
Dieſe Frage ſcheinet etwas paradoxes zu ſagen. Kei-
ner kann eine Vorſtellung von einer Handlung baben,
die er nicht ſelbſt ausgeuͤbt hat, entweder zuſammen in
ihrem Ganzen, oder nach ihren einzelnen Theilen. Wenn
alſo die Vorſtellung von einer Tugend bey jemanden leb-
haft iſt, ſo muß zum mindeſten ein Anfang dieſer Fertig-
keit vorhanden ſeyn. Wer eine Ruͤhrung des Herzens
darſtellen ſoll, muß ja ſelbſt geruͤhret ſeyn; und muß
nicht auch das Herz von tugendhaften Geſinnungen wal-
len, wenn der Verſtand ſolche deutlich denken, und die
Phantaſie ſie in ihren Wirkungen lebhaft faſſen ſoll?
Eine ſtarke volle Beſchreibung der Tugend ſollte alſo ein
guͤnſtiges Vorurtheil fuͤr den Redner oder Poeten erwe-
cken, der ſie ſchildert. Warum alſo ein nachtheiliges,
wie in der Frage angenommen wird, und wie die Er-
fahrung es lehret?
Zum voraus bitte ich, man erinnere ſich, daß dieſe
Regel zu der Phyſiognomie der Geiſter gehoͤre, und be-
huͤte der Himmel! daß ich eine einzige derſelben fuͤr ſo
allgemein richtig anerkennen ſollte, daß keine Ausnahme
geſtattet wuͤrde. Selten ſind doch die Heldenſeelen, die
zugleich das Jnnere ihrer Thaten beſchreiben, ſelten die
ſtarken Denker, die die Schritte ihrer Denkkraft deut-
lich angeben; ſelten die Virtuoſen in der Kunſt, welche
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Tetens, Johann Nicolas: Philosophische Versuche über die menschliche Natur und ihre Entwickelung. Bd. 1. Leipzig, 1777, S. 651. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/tetens_versuche01_1777/711>, abgerufen am 21.11.2024.
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