Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Tetens, Johann Nicolas: Philosophische Versuche über die menschliche Natur und ihre Entwickelung. Bd. 1. Leipzig, 1777.

Bild:
<< vorherige Seite

X. Versuch. Ueber die Beziehung
einfache Bestandtheile aus den Empfindungen her, nicht
auflösen können; also solche, die dem Schein nach ein-
fach sind, und doch neugemacht. Vielleicht giebt es
viele von dieser Art. Aber giebt es nicht auch derglei-
chen Vorstellungen von andern, auch sichtbaren Objekten,
die dennoch keine wahre Einwendung gegen den Ursprung
aller Vorstellungen aus der Empfindung begründen?
Was hieraus folget, ist offenbar die Bestätigung des obi-
gen Schlusses über die Natur unserer Vorstellungen von
Aktionen. Die wieder zurückkehrende Anwandlung in
dem Jnnern zu derselbigen Kraftäußerung, die sich in
jeder solcher Vorstellungen wahrnehmen lässet, beziehet
sich auf eine vorhergegangene Empfindung, und ist eine
von dieser zurückgebliebene wiedererregte Disposition.

La Fontaine hatte noch keine Fabeln gemacht, als
ihm der Gedanke einfiel, er könne solche Aussätze wohl
nach machen, als ihm sein Lehrer vorgelesen hatte, und
zugleich auch der Trieb zu dieser Art von Arbeiten auf-
stieg. Hier gieng eine Vorstellung von der Dichterar-
beit noch vor dem Versuch vorher. Aus dem vorher
erinnerten lassen solche Beyspiele sich leicht erklären, und
diese Erklärung stimmet wiederum mit der unmittelba-
ren Erfahrung überein. Das sich selbst noch unbekannte
Genie des genannten Dichters empfand, was jedes Genie
empfindet, wenn ein Zufall es auf Geschäfte führt, die
ihm angemessen sind. Es entsteht Lust, Begierde, reges
Bestreben, und ein Ansatz zur Wirksamkeit, sobald eine
geringe vorlaufende Empfindung es wittern läßt, daß es
einen freyen Kreis vor sich hat, in den es sich ausbreiten
kann. Dieß ist eine Empfindung, wodurch die so leicht
reizbare Kraft erreget wird. Diese geht unmittelbar
und instinktartig hervor, bearbeitet Jdeen, und findet
Wirkungen, welche er mit dem vorgelegten Muster ver-
gleicht, und diesem ähnlich findet. Dann macht er sich
eine Vorstellung von der Arbeit, und es entsteht ein

Vor-

X. Verſuch. Ueber die Beziehung
einfache Beſtandtheile aus den Empfindungen her, nicht
aufloͤſen koͤnnen; alſo ſolche, die dem Schein nach ein-
fach ſind, und doch neugemacht. Vielleicht giebt es
viele von dieſer Art. Aber giebt es nicht auch derglei-
chen Vorſtellungen von andern, auch ſichtbaren Objekten,
die dennoch keine wahre Einwendung gegen den Urſprung
aller Vorſtellungen aus der Empfindung begruͤnden?
Was hieraus folget, iſt offenbar die Beſtaͤtigung des obi-
gen Schluſſes uͤber die Natur unſerer Vorſtellungen von
Aktionen. Die wieder zuruͤckkehrende Anwandlung in
dem Jnnern zu derſelbigen Kraftaͤußerung, die ſich in
jeder ſolcher Vorſtellungen wahrnehmen laͤſſet, beziehet
ſich auf eine vorhergegangene Empfindung, und iſt eine
von dieſer zuruͤckgebliebene wiedererregte Dispoſition.

La Fontaine hatte noch keine Fabeln gemacht, als
ihm der Gedanke einfiel, er koͤnne ſolche Auſſaͤtze wohl
nach machen, als ihm ſein Lehrer vorgeleſen hatte, und
zugleich auch der Trieb zu dieſer Art von Arbeiten auf-
ſtieg. Hier gieng eine Vorſtellung von der Dichterar-
beit noch vor dem Verſuch vorher. Aus dem vorher
erinnerten laſſen ſolche Beyſpiele ſich leicht erklaͤren, und
dieſe Erklaͤrung ſtimmet wiederum mit der unmittelba-
ren Erfahrung uͤberein. Das ſich ſelbſt noch unbekannte
Genie des genannten Dichters empfand, was jedes Genie
empfindet, wenn ein Zufall es auf Geſchaͤfte fuͤhrt, die
ihm angemeſſen ſind. Es entſteht Luſt, Begierde, reges
Beſtreben, und ein Anſatz zur Wirkſamkeit, ſobald eine
geringe vorlaufende Empfindung es wittern laͤßt, daß es
einen freyen Kreis vor ſich hat, in den es ſich ausbreiten
kann. Dieß iſt eine Empfindung, wodurch die ſo leicht
reizbare Kraft erreget wird. Dieſe geht unmittelbar
und inſtinktartig hervor, bearbeitet Jdeen, und findet
Wirkungen, welche er mit dem vorgelegten Muſter ver-
gleicht, und dieſem aͤhnlich findet. Dann macht er ſich
eine Vorſtellung von der Arbeit, und es entſteht ein

Vor-
<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <div n="2">
          <div n="3">
            <p><pb facs="#f0708" n="648"/><fw place="top" type="header"><hi rendition="#aq">X.</hi> Ver&#x017F;uch. Ueber die Beziehung</fw><lb/>
einfache Be&#x017F;tandtheile aus den Empfindungen her, nicht<lb/>
auflo&#x0364;&#x017F;en ko&#x0364;nnen; al&#x017F;o &#x017F;olche, die dem Schein nach ein-<lb/>
fach &#x017F;ind, und doch neugemacht. Vielleicht giebt es<lb/>
viele von die&#x017F;er Art. Aber giebt es nicht auch derglei-<lb/>
chen Vor&#x017F;tellungen von andern, auch &#x017F;ichtbaren Objekten,<lb/>
die dennoch keine wahre Einwendung gegen den Ur&#x017F;prung<lb/>
aller Vor&#x017F;tellungen aus der Empfindung begru&#x0364;nden?<lb/>
Was hieraus folget, i&#x017F;t offenbar die Be&#x017F;ta&#x0364;tigung des obi-<lb/>
gen Schlu&#x017F;&#x017F;es u&#x0364;ber die Natur un&#x017F;erer Vor&#x017F;tellungen von<lb/>
Aktionen. Die wieder zuru&#x0364;ckkehrende Anwandlung in<lb/>
dem Jnnern zu der&#x017F;elbigen Krafta&#x0364;ußerung, die &#x017F;ich in<lb/>
jeder &#x017F;olcher Vor&#x017F;tellungen wahrnehmen la&#x0364;&#x017F;&#x017F;et, beziehet<lb/>
&#x017F;ich auf eine vorhergegangene Empfindung, und i&#x017F;t eine<lb/>
von die&#x017F;er zuru&#x0364;ckgebliebene wiedererregte Dispo&#x017F;ition.</p><lb/>
            <p><hi rendition="#fr">La Fontaine</hi> hatte noch keine Fabeln gemacht, als<lb/>
ihm der Gedanke einfiel, er ko&#x0364;nne &#x017F;olche Au&#x017F;&#x017F;a&#x0364;tze wohl<lb/>
nach machen, als ihm &#x017F;ein Lehrer vorgele&#x017F;en hatte, und<lb/>
zugleich auch der Trieb zu die&#x017F;er Art von Arbeiten auf-<lb/>
&#x017F;tieg. Hier gieng eine Vor&#x017F;tellung von der Dichterar-<lb/>
beit noch vor dem Ver&#x017F;uch vorher. Aus dem vorher<lb/>
erinnerten la&#x017F;&#x017F;en &#x017F;olche Bey&#x017F;piele &#x017F;ich leicht erkla&#x0364;ren, und<lb/>
die&#x017F;e Erkla&#x0364;rung &#x017F;timmet wiederum mit der unmittelba-<lb/>
ren Erfahrung u&#x0364;berein. Das &#x017F;ich &#x017F;elb&#x017F;t noch unbekannte<lb/>
Genie des genannten Dichters empfand, was jedes Genie<lb/>
empfindet, wenn ein Zufall es auf Ge&#x017F;cha&#x0364;fte fu&#x0364;hrt, die<lb/>
ihm angeme&#x017F;&#x017F;en &#x017F;ind. Es ent&#x017F;teht Lu&#x017F;t, Begierde, reges<lb/>
Be&#x017F;treben, und ein An&#x017F;atz zur Wirk&#x017F;amkeit, &#x017F;obald eine<lb/>
geringe vorlaufende Empfindung es wittern la&#x0364;ßt, daß es<lb/>
einen freyen Kreis vor &#x017F;ich hat, in den es &#x017F;ich ausbreiten<lb/>
kann. Dieß i&#x017F;t eine Empfindung, wodurch die &#x017F;o leicht<lb/>
reizbare Kraft erreget wird. Die&#x017F;e geht unmittelbar<lb/>
und in&#x017F;tinktartig hervor, bearbeitet Jdeen, und findet<lb/>
Wirkungen, welche er mit dem vorgelegten Mu&#x017F;ter ver-<lb/>
gleicht, und die&#x017F;em a&#x0364;hnlich findet. Dann macht er &#x017F;ich<lb/>
eine Vor&#x017F;tellung von der Arbeit, und es ent&#x017F;teht ein<lb/>
<fw place="bottom" type="catch"><hi rendition="#fr">Vor-</hi></fw><lb/></p>
          </div>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[648/0708] X. Verſuch. Ueber die Beziehung einfache Beſtandtheile aus den Empfindungen her, nicht aufloͤſen koͤnnen; alſo ſolche, die dem Schein nach ein- fach ſind, und doch neugemacht. Vielleicht giebt es viele von dieſer Art. Aber giebt es nicht auch derglei- chen Vorſtellungen von andern, auch ſichtbaren Objekten, die dennoch keine wahre Einwendung gegen den Urſprung aller Vorſtellungen aus der Empfindung begruͤnden? Was hieraus folget, iſt offenbar die Beſtaͤtigung des obi- gen Schluſſes uͤber die Natur unſerer Vorſtellungen von Aktionen. Die wieder zuruͤckkehrende Anwandlung in dem Jnnern zu derſelbigen Kraftaͤußerung, die ſich in jeder ſolcher Vorſtellungen wahrnehmen laͤſſet, beziehet ſich auf eine vorhergegangene Empfindung, und iſt eine von dieſer zuruͤckgebliebene wiedererregte Dispoſition. La Fontaine hatte noch keine Fabeln gemacht, als ihm der Gedanke einfiel, er koͤnne ſolche Auſſaͤtze wohl nach machen, als ihm ſein Lehrer vorgeleſen hatte, und zugleich auch der Trieb zu dieſer Art von Arbeiten auf- ſtieg. Hier gieng eine Vorſtellung von der Dichterar- beit noch vor dem Verſuch vorher. Aus dem vorher erinnerten laſſen ſolche Beyſpiele ſich leicht erklaͤren, und dieſe Erklaͤrung ſtimmet wiederum mit der unmittelba- ren Erfahrung uͤberein. Das ſich ſelbſt noch unbekannte Genie des genannten Dichters empfand, was jedes Genie empfindet, wenn ein Zufall es auf Geſchaͤfte fuͤhrt, die ihm angemeſſen ſind. Es entſteht Luſt, Begierde, reges Beſtreben, und ein Anſatz zur Wirkſamkeit, ſobald eine geringe vorlaufende Empfindung es wittern laͤßt, daß es einen freyen Kreis vor ſich hat, in den es ſich ausbreiten kann. Dieß iſt eine Empfindung, wodurch die ſo leicht reizbare Kraft erreget wird. Dieſe geht unmittelbar und inſtinktartig hervor, bearbeitet Jdeen, und findet Wirkungen, welche er mit dem vorgelegten Muſter ver- gleicht, und dieſem aͤhnlich findet. Dann macht er ſich eine Vorſtellung von der Arbeit, und es entſteht ein Vor-

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien im Double-Keying-Verfahren von Nicht-Muttersprachlern erfasst und in XML/TEI P5 nach DTA-Basisformat kodiert.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/tetens_versuche01_1777
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/tetens_versuche01_1777/708
Zitationshilfe: Tetens, Johann Nicolas: Philosophische Versuche über die menschliche Natur und ihre Entwickelung. Bd. 1. Leipzig, 1777, S. 648. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/tetens_versuche01_1777/708>, abgerufen am 21.11.2024.