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Tetens, Johann Nicolas: Philosophische Versuche über die menschliche Natur und ihre Entwickelung. Bd. 1. Leipzig, 1777.

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mehr mit der Erde sich herumdrehen könne; ich sage,
wenn jemand nicht davon auf einem Kahn, auf einem
Schiff, auch allenfalls, wenn er in einem Wagen fährt,
mit einem Wort, aus seinen eigenen Erfahrungen über-
zeuget worden ist, so wird er es nimmer recht fassen, wie
das am Himmel so seyn sollte, wie es wirklich ist, und
nie recht fest von der Wahrheit des astronomischen Vor-
trages überzeuget werden.

Aber deswegen ist doch nicht allemal, noch bey al-
len eine solche, aus eigenen Erfahrungen anschaulich ge-
machte Einsicht, daß in unserm sinnlichen Urtheil nur
eine zufällige Verbindung trennbarer Jdeen zum Grunde
liege, erfoderlich. Wenn nur in dem Raisonnement
völlige Evidenz für uns ist, so darf höchstens nur die
Möglichkeit erkannt werden, daß die Nothwendigkeit in
unserm entgegenstehenden sinnlichen Urtheil, nur allein
aus gewohnter Jdeenassociation herrühre. Alsdann
kann eine wiederholte Prüfung der Schlüsse aus Grund-
sätzen uns völlig sicher darüber machen, daß die Sache
sich so verhalte, wie es die Theorie lehret, obgleich die
Sinne dagegen sind. Unser Beyfall ist in diesem Fall
subjektivisch nothwendig, so lange die beweisenden Schlüsse
in ihrer Evidenz uns gegenwärtig sind. Es ist keine
falsche Vernünfteley, wenn der Philosoph verlangt, daß
man in solchen Fällen auf seine Schlüsse bauen solle.

Z. B. daß wir die Fixsterne nicht sehen an densel-
bigen Stellen, wo das Licht von ihnen in gerader Linie
her zu uns kommt, weil die Geschwindigkeit, womit die
Erde und unser Auge auf ihr, sich beweget, indem es
von den Lichtstrahlen getroffen wird, zwar gegen die Ge-
schwindigkeit des Lichts nur geringe ist, aber doch schon
ein zu bestimmendes Verhältniß zu ihr hat. Von die-
sem Satz können wir aus keiner andern Erfahrung mit
dem Gesicht überzeuget werden; aber aus der Natur
des Sehens begreifen wir doch, daß es so seyn könne,

und
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der hoͤhern Kenntniſſe ⁊c.
mehr mit der Erde ſich herumdrehen koͤnne; ich ſage,
wenn jemand nicht davon auf einem Kahn, auf einem
Schiff, auch allenfalls, wenn er in einem Wagen faͤhrt,
mit einem Wort, aus ſeinen eigenen Erfahrungen uͤber-
zeuget worden iſt, ſo wird er es nimmer recht faſſen, wie
das am Himmel ſo ſeyn ſollte, wie es wirklich iſt, und
nie recht feſt von der Wahrheit des aſtronomiſchen Vor-
trages uͤberzeuget werden.

Aber deswegen iſt doch nicht allemal, noch bey al-
len eine ſolche, aus eigenen Erfahrungen anſchaulich ge-
machte Einſicht, daß in unſerm ſinnlichen Urtheil nur
eine zufaͤllige Verbindung trennbarer Jdeen zum Grunde
liege, erfoderlich. Wenn nur in dem Raiſonnement
voͤllige Evidenz fuͤr uns iſt, ſo darf hoͤchſtens nur die
Moͤglichkeit erkannt werden, daß die Nothwendigkeit in
unſerm entgegenſtehenden ſinnlichen Urtheil, nur allein
aus gewohnter Jdeenaſſociation herruͤhre. Alsdann
kann eine wiederholte Pruͤfung der Schluͤſſe aus Grund-
ſaͤtzen uns voͤllig ſicher daruͤber machen, daß die Sache
ſich ſo verhalte, wie es die Theorie lehret, obgleich die
Sinne dagegen ſind. Unſer Beyfall iſt in dieſem Fall
ſubjektiviſch nothwendig, ſo lange die beweiſenden Schluͤſſe
in ihrer Evidenz uns gegenwaͤrtig ſind. Es iſt keine
falſche Vernuͤnfteley, wenn der Philoſoph verlangt, daß
man in ſolchen Faͤllen auf ſeine Schluͤſſe bauen ſolle.

Z. B. daß wir die Fixſterne nicht ſehen an denſel-
bigen Stellen, wo das Licht von ihnen in gerader Linie
her zu uns kommt, weil die Geſchwindigkeit, womit die
Erde und unſer Auge auf ihr, ſich beweget, indem es
von den Lichtſtrahlen getroffen wird, zwar gegen die Ge-
ſchwindigkeit des Lichts nur geringe iſt, aber doch ſchon
ein zu beſtimmendes Verhaͤltniß zu ihr hat. Von die-
ſem Satz koͤnnen wir aus keiner andern Erfahrung mit
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[581/0641] der hoͤhern Kenntniſſe ⁊c. mehr mit der Erde ſich herumdrehen koͤnne; ich ſage, wenn jemand nicht davon auf einem Kahn, auf einem Schiff, auch allenfalls, wenn er in einem Wagen faͤhrt, mit einem Wort, aus ſeinen eigenen Erfahrungen uͤber- zeuget worden iſt, ſo wird er es nimmer recht faſſen, wie das am Himmel ſo ſeyn ſollte, wie es wirklich iſt, und nie recht feſt von der Wahrheit des aſtronomiſchen Vor- trages uͤberzeuget werden. Aber deswegen iſt doch nicht allemal, noch bey al- len eine ſolche, aus eigenen Erfahrungen anſchaulich ge- machte Einſicht, daß in unſerm ſinnlichen Urtheil nur eine zufaͤllige Verbindung trennbarer Jdeen zum Grunde liege, erfoderlich. Wenn nur in dem Raiſonnement voͤllige Evidenz fuͤr uns iſt, ſo darf hoͤchſtens nur die Moͤglichkeit erkannt werden, daß die Nothwendigkeit in unſerm entgegenſtehenden ſinnlichen Urtheil, nur allein aus gewohnter Jdeenaſſociation herruͤhre. Alsdann kann eine wiederholte Pruͤfung der Schluͤſſe aus Grund- ſaͤtzen uns voͤllig ſicher daruͤber machen, daß die Sache ſich ſo verhalte, wie es die Theorie lehret, obgleich die Sinne dagegen ſind. Unſer Beyfall iſt in dieſem Fall ſubjektiviſch nothwendig, ſo lange die beweiſenden Schluͤſſe in ihrer Evidenz uns gegenwaͤrtig ſind. Es iſt keine falſche Vernuͤnfteley, wenn der Philoſoph verlangt, daß man in ſolchen Faͤllen auf ſeine Schluͤſſe bauen ſolle. Z. B. daß wir die Fixſterne nicht ſehen an denſel- bigen Stellen, wo das Licht von ihnen in gerader Linie her zu uns kommt, weil die Geſchwindigkeit, womit die Erde und unſer Auge auf ihr, ſich beweget, indem es von den Lichtſtrahlen getroffen wird, zwar gegen die Ge- ſchwindigkeit des Lichts nur geringe iſt, aber doch ſchon ein zu beſtimmendes Verhaͤltniß zu ihr hat. Von die- ſem Satz koͤnnen wir aus keiner andern Erfahrung mit dem Geſicht uͤberzeuget werden; aber aus der Natur des Sehens begreifen wir doch, daß es ſo ſeyn koͤnne, und O o 3

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Zitationshilfe: Tetens, Johann Nicolas: Philosophische Versuche über die menschliche Natur und ihre Entwickelung. Bd. 1. Leipzig, 1777, S. 581. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/tetens_versuche01_1777/641>, abgerufen am 24.11.2024.