Da uns das Gefühl saget, die Sachen, die ich durch den aufsteigenden Dampf in der Nähe eines stark eingeheizten Ofens zittern sehe, rühren sich von der Stelle nicht, so glaube ich dem Gefühl, und nicht dem Ge- sicht. Es hat Ueberlegungen gekostet, ehe die natür- liche Denkkraft zur Gewißheit hierüber gekommen ist. Das sieht man an den Kindern; sie fühlen nach der Sache; sie sehen sie wieder an, verwundern sich, ver- gleichen die Eindrücke, und dann kommt es erst zu einem festen Urtheile. Der Gemeinverstand berichtiget sich auf folgende Art.
Da ich die Gegenstände befühle, so sind die Or- gane, womit ich fühle, dieselbigen, und die Gegenstände liegen alle unmittelbar an dem Organ. Jch kenne kein Erfoderniß der Empfindung, das ich nicht in der einen Empfindung durchs Gefühl so antreffe, als in der an- dern. Jch muß also nothwendig glauben, daß Dinge, von denen ich unter einerley Umständen, auf eben diesel- bige Art, durch einerley Organ, Eindrücke erhalte, ei- nerley oder verschieden sind, je nachdem es die Eindrücke, als ihre Wirkungen auf mich, sind. Jch muß also nothwendig die Beziehungen der Dinge so denken, wie es ihre Gefühlsempfindungen mit sich bringen.
Die Verhältnisse und Beziehungen in den Dingen, die man ihnen zufolge des Gefühls beyleget, sind also auch beständig dieselbigen, so lange mit den Objekten selbst keine Veränderung vorgehet. So etwas finden wir in den Gesichtseindrücken nicht. Wir nehmen also unsere festen Begriffe von diesen Verhältnissen aus den Gefühlsempfindungen. Ruhen, sich bewegen, gleich groß, größer und kleiner seyn, heißt uns also so viel, als: "dergleichen nach Gefühlseindrücken seyn."
Die Gesichtseindrücke geben die nämlichen Ver- hältnisse, wie die Gefühlseindrücke, wenn auch bey ih- nen alles übrige, was zu der Empfindung gehöret, eben
so
VIII. Verſuch. Von der Beziehung
Da uns das Gefuͤhl ſaget, die Sachen, die ich durch den aufſteigenden Dampf in der Naͤhe eines ſtark eingeheizten Ofens zittern ſehe, ruͤhren ſich von der Stelle nicht, ſo glaube ich dem Gefuͤhl, und nicht dem Ge- ſicht. Es hat Ueberlegungen gekoſtet, ehe die natuͤr- liche Denkkraft zur Gewißheit hieruͤber gekommen iſt. Das ſieht man an den Kindern; ſie fuͤhlen nach der Sache; ſie ſehen ſie wieder an, verwundern ſich, ver- gleichen die Eindruͤcke, und dann kommt es erſt zu einem feſten Urtheile. Der Gemeinverſtand berichtiget ſich auf folgende Art.
Da ich die Gegenſtaͤnde befuͤhle, ſo ſind die Or- gane, womit ich fuͤhle, dieſelbigen, und die Gegenſtaͤnde liegen alle unmittelbar an dem Organ. Jch kenne kein Erfoderniß der Empfindung, das ich nicht in der einen Empfindung durchs Gefuͤhl ſo antreffe, als in der an- dern. Jch muß alſo nothwendig glauben, daß Dinge, von denen ich unter einerley Umſtaͤnden, auf eben dieſel- bige Art, durch einerley Organ, Eindruͤcke erhalte, ei- nerley oder verſchieden ſind, je nachdem es die Eindruͤcke, als ihre Wirkungen auf mich, ſind. Jch muß alſo nothwendig die Beziehungen der Dinge ſo denken, wie es ihre Gefuͤhlsempfindungen mit ſich bringen.
Die Verhaͤltniſſe und Beziehungen in den Dingen, die man ihnen zufolge des Gefuͤhls beyleget, ſind alſo auch beſtaͤndig dieſelbigen, ſo lange mit den Objekten ſelbſt keine Veraͤnderung vorgehet. So etwas finden wir in den Geſichtseindruͤcken nicht. Wir nehmen alſo unſere feſten Begriffe von dieſen Verhaͤltniſſen aus den Gefuͤhlsempfindungen. Ruhen, ſich bewegen, gleich groß, groͤßer und kleiner ſeyn, heißt uns alſo ſo viel, als: „dergleichen nach Gefuͤhlseindruͤcken ſeyn.‟
Die Geſichtseindruͤcke geben die naͤmlichen Ver- haͤltniſſe, wie die Gefuͤhlseindruͤcke, wenn auch bey ih- nen alles uͤbrige, was zu der Empfindung gehoͤret, eben
ſo
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VIII. Verſuch. Von der Beziehung
Da uns das Gefuͤhl ſaget, die Sachen, die ich
durch den aufſteigenden Dampf in der Naͤhe eines ſtark
eingeheizten Ofens zittern ſehe, ruͤhren ſich von der Stelle
nicht, ſo glaube ich dem Gefuͤhl, und nicht dem Ge-
ſicht. Es hat Ueberlegungen gekoſtet, ehe die natuͤr-
liche Denkkraft zur Gewißheit hieruͤber gekommen iſt.
Das ſieht man an den Kindern; ſie fuͤhlen nach der
Sache; ſie ſehen ſie wieder an, verwundern ſich, ver-
gleichen die Eindruͤcke, und dann kommt es erſt zu einem
feſten Urtheile. Der Gemeinverſtand berichtiget ſich
auf folgende Art.
Da ich die Gegenſtaͤnde befuͤhle, ſo ſind die Or-
gane, womit ich fuͤhle, dieſelbigen, und die Gegenſtaͤnde
liegen alle unmittelbar an dem Organ. Jch kenne kein
Erfoderniß der Empfindung, das ich nicht in der einen
Empfindung durchs Gefuͤhl ſo antreffe, als in der an-
dern. Jch muß alſo nothwendig glauben, daß Dinge,
von denen ich unter einerley Umſtaͤnden, auf eben dieſel-
bige Art, durch einerley Organ, Eindruͤcke erhalte, ei-
nerley oder verſchieden ſind, je nachdem es die Eindruͤcke,
als ihre Wirkungen auf mich, ſind. Jch muß alſo
nothwendig die Beziehungen der Dinge ſo denken, wie
es ihre Gefuͤhlsempfindungen mit ſich bringen.
Die Verhaͤltniſſe und Beziehungen in den Dingen,
die man ihnen zufolge des Gefuͤhls beyleget, ſind alſo
auch beſtaͤndig dieſelbigen, ſo lange mit den Objekten
ſelbſt keine Veraͤnderung vorgehet. So etwas finden
wir in den Geſichtseindruͤcken nicht. Wir nehmen
alſo unſere feſten Begriffe von dieſen Verhaͤltniſſen aus
den Gefuͤhlsempfindungen. Ruhen, ſich bewegen,
gleich groß, groͤßer und kleiner ſeyn, heißt uns alſo ſo
viel, als: „dergleichen nach Gefuͤhlseindruͤcken ſeyn.‟
Die Geſichtseindruͤcke geben die naͤmlichen Ver-
haͤltniſſe, wie die Gefuͤhlseindruͤcke, wenn auch bey ih-
nen alles uͤbrige, was zu der Empfindung gehoͤret, eben
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Tetens, Johann Nicolas: Philosophische Versuche über die menschliche Natur und ihre Entwickelung. Bd. 1. Leipzig, 1777, S. 578. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/tetens_versuche01_1777/638>, abgerufen am 24.11.2024.
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