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Tetens, Johann Nicolas: Philosophische Versuche über die menschliche Natur und ihre Entwickelung. Bd. 1. Leipzig, 1777.

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VIII. Versuch. Von der Beziehung
verbindet sie nicht, oder doch nur selten. Der größte
Theil seiner Kenntnisse bestehet in den Jdeen und Ur-
theilen von den wirklichen Dingen, ihren Beschaffenhei-
ten und Verhältnissen, die er sich bey dem Gebrauch sei-
ner Sinne, durch Uebung und Wirksamkeit, ohne das
Hülfsmittel jener allgemeinen Theorie, verschaffet hat.
Was von diesen letztern abhänget, das gehört ausschlie-
ßungsweise der raisonnirenden Vernunft.

Diese Anmerkung ist bey ihrem Gebrauch nie aus
der Acht zu lassen. Sie macht es zunächst begreiflich,
wie oft Köpfe in abstrakten Wissenschaften, auch in der
theoretischen Mathematik fortkommen können, und bes-
ser fort kommen, als andere, ohnerachtet sie sonsten nur
einen mittelmäßigen Menschenverstand beweisen, und in
dieser Hinsicht unter denen sind, die sie übertreffen. Ei-
ne Vorstellungskraft, die eine zu geringe Breite hat,
um ganze Gegenstände mit einmal in ihrer Völligkeit zu
umfassen, kann doch wohl einzelne Seiten von ihnen al-
lein und abgesondert sehr gut durchdenken. Wenn die
aus solchen abstrakten Raisonnements erwachsene Kennt-
niß von einer Sache, nicht immer auf das Anschaun der
ganzen Sache zurückgeführet wird, so ist es gar zu leicht
möglich, das Ganze nach Einer Seite von ihm zu be-
urtheilen. Daher entstehet der theoretische Schief-
sinn.

Die mathematischen Theorien sind von derselbigen
Natur, und im Grunde nichts anders, als einseitige
Untersuchungen der wirklichen Körper, nemlich in so fer-
ne diese nur Größen sind; aber sie haben außer ihrer
Genauigkeit und Evidenz noch einen andern Vorzug.
Denn weil wir bey so vielen Körpern, auf welche die
Mathematik angewendet wird, fast auf nichts mehr, als
auf ihre Größen Rücksicht nehmen, und also die ganzen
Gegenstände allein wie Größen betrachten, so erhalten
jene Theorien das Ansehn, als wenn sie selbst die wirk-

lichen

VIII. Verſuch. Von der Beziehung
verbindet ſie nicht, oder doch nur ſelten. Der groͤßte
Theil ſeiner Kenntniſſe beſtehet in den Jdeen und Ur-
theilen von den wirklichen Dingen, ihren Beſchaffenhei-
ten und Verhaͤltniſſen, die er ſich bey dem Gebrauch ſei-
ner Sinne, durch Uebung und Wirkſamkeit, ohne das
Huͤlfsmittel jener allgemeinen Theorie, verſchaffet hat.
Was von dieſen letztern abhaͤnget, das gehoͤrt ausſchlie-
ßungsweiſe der raiſonnirenden Vernunft.

Dieſe Anmerkung iſt bey ihrem Gebrauch nie aus
der Acht zu laſſen. Sie macht es zunaͤchſt begreiflich,
wie oft Koͤpfe in abſtrakten Wiſſenſchaften, auch in der
theoretiſchen Mathematik fortkommen koͤnnen, und beſ-
ſer fort kommen, als andere, ohnerachtet ſie ſonſten nur
einen mittelmaͤßigen Menſchenverſtand beweiſen, und in
dieſer Hinſicht unter denen ſind, die ſie uͤbertreffen. Ei-
ne Vorſtellungskraft, die eine zu geringe Breite hat,
um ganze Gegenſtaͤnde mit einmal in ihrer Voͤlligkeit zu
umfaſſen, kann doch wohl einzelne Seiten von ihnen al-
lein und abgeſondert ſehr gut durchdenken. Wenn die
aus ſolchen abſtrakten Raiſonnements erwachſene Kennt-
niß von einer Sache, nicht immer auf das Anſchaun der
ganzen Sache zuruͤckgefuͤhret wird, ſo iſt es gar zu leicht
moͤglich, das Ganze nach Einer Seite von ihm zu be-
urtheilen. Daher entſtehet der theoretiſche Schief-
ſinn.

Die mathematiſchen Theorien ſind von derſelbigen
Natur, und im Grunde nichts anders, als einſeitige
Unterſuchungen der wirklichen Koͤrper, nemlich in ſo fer-
ne dieſe nur Groͤßen ſind; aber ſie haben außer ihrer
Genauigkeit und Evidenz noch einen andern Vorzug.
Denn weil wir bey ſo vielen Koͤrpern, auf welche die
Mathematik angewendet wird, faſt auf nichts mehr, als
auf ihre Groͤßen Ruͤckſicht nehmen, und alſo die ganzen
Gegenſtaͤnde allein wie Groͤßen betrachten, ſo erhalten
jene Theorien das Anſehn, als wenn ſie ſelbſt die wirk-

lichen
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[574/0634] VIII. Verſuch. Von der Beziehung verbindet ſie nicht, oder doch nur ſelten. Der groͤßte Theil ſeiner Kenntniſſe beſtehet in den Jdeen und Ur- theilen von den wirklichen Dingen, ihren Beſchaffenhei- ten und Verhaͤltniſſen, die er ſich bey dem Gebrauch ſei- ner Sinne, durch Uebung und Wirkſamkeit, ohne das Huͤlfsmittel jener allgemeinen Theorie, verſchaffet hat. Was von dieſen letztern abhaͤnget, das gehoͤrt ausſchlie- ßungsweiſe der raiſonnirenden Vernunft. Dieſe Anmerkung iſt bey ihrem Gebrauch nie aus der Acht zu laſſen. Sie macht es zunaͤchſt begreiflich, wie oft Koͤpfe in abſtrakten Wiſſenſchaften, auch in der theoretiſchen Mathematik fortkommen koͤnnen, und beſ- ſer fort kommen, als andere, ohnerachtet ſie ſonſten nur einen mittelmaͤßigen Menſchenverſtand beweiſen, und in dieſer Hinſicht unter denen ſind, die ſie uͤbertreffen. Ei- ne Vorſtellungskraft, die eine zu geringe Breite hat, um ganze Gegenſtaͤnde mit einmal in ihrer Voͤlligkeit zu umfaſſen, kann doch wohl einzelne Seiten von ihnen al- lein und abgeſondert ſehr gut durchdenken. Wenn die aus ſolchen abſtrakten Raiſonnements erwachſene Kennt- niß von einer Sache, nicht immer auf das Anſchaun der ganzen Sache zuruͤckgefuͤhret wird, ſo iſt es gar zu leicht moͤglich, das Ganze nach Einer Seite von ihm zu be- urtheilen. Daher entſtehet der theoretiſche Schief- ſinn. Die mathematiſchen Theorien ſind von derſelbigen Natur, und im Grunde nichts anders, als einſeitige Unterſuchungen der wirklichen Koͤrper, nemlich in ſo fer- ne dieſe nur Groͤßen ſind; aber ſie haben außer ihrer Genauigkeit und Evidenz noch einen andern Vorzug. Denn weil wir bey ſo vielen Koͤrpern, auf welche die Mathematik angewendet wird, faſt auf nichts mehr, als auf ihre Groͤßen Ruͤckſicht nehmen, und alſo die ganzen Gegenſtaͤnde allein wie Groͤßen betrachten, ſo erhalten jene Theorien das Anſehn, als wenn ſie ſelbſt die wirk- lichen

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Zitationshilfe: Tetens, Johann Nicolas: Philosophische Versuche über die menschliche Natur und ihre Entwickelung. Bd. 1. Leipzig, 1777, S. 574. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/tetens_versuche01_1777/634>, abgerufen am 21.11.2024.