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Tetens, Johann Nicolas: Philosophische Versuche über die menschliche Natur und ihre Entwickelung. Bd. 1. Leipzig, 1777.

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der höhern Kenntnisse etc.
durch den Begrif vorgestellet werden, sind sie nichts, als
bloße ruhende Jdeenreihen, wovon der Verstand keinen
andern Nutzen hat, als das Vergnügen aus der Speku-
lation als seiner eigenen Arbeit, wenn er sie verfertiget,
und sich ihrer zuweilen erinnert. Aber so bald sich ein
wirklicher Gegenstand antreffen läßt, der unter dem
Gemeinbegrif enthalten ist, so gleich wird die ganze Theo-
rie auf ihn angewendet, und dann enthält sie nun wahre
und nothwendige Verhältnisse dieses Gegenstandes auf
andere in sich. Die mathematische Theorie von den Ke-
gelschnitten, und besonders von der Ellipsis ward zu ei-
ner Kenntniß von den Bahnen der Planeten, als Kep-
ler aus Beobachtungen bewiesen hatte, daß diese krum-
me Linien solche Ellipsen sind.

Diese Theorien sind, von einer Seite betrachtet,
künstliche Hülfsmittel des Verstandes. Sie sind
ihm, was die Vergrößerungsgläser und die Ferngläser
den Augen sind, oder die Bewafnung dem natürlichen
Magneten. Es war sehr natürlich, ein solches Hülfs-
mittel zu suchen, ob es gleich lange gedauert hat, ehe
man damit einigermaaßen zu Stande gekommen ist,
denn hiebey fieng sich erst das eigentliche Philosophiren an.
Nichts ist natürlicher, als daß wir eine Sache, die wir
genau untersuchen wollen, erst von einer Seite nachfor-
schen, darauf von der andern, und alsdenn diese ver-
schiedene Gedanken mit einander vergleichen und verbin-
den. Durch die Erlernung der allgemeinen Theorien er-
hält man sonsten nichts, als solche verschiedene Beobach-
tungen der Dinge von gewissen Seiten, die man als ei-
nen Vorrath zum künftigen Gebrauch sich verfertiget
hat.

Der gemeine Verstand hat unter seinen Kenntnissen
auch allgemeine Begriffe und allgemeine Grundsätze,
aber er hat sie nicht in ihrer Allgemeinheit und noch we-
niger in ihrer bestimmten Allgemeinheit vor sich, und

verbin-

der hoͤhern Kenntniſſe ⁊c.
durch den Begrif vorgeſtellet werden, ſind ſie nichts, als
bloße ruhende Jdeenreihen, wovon der Verſtand keinen
andern Nutzen hat, als das Vergnuͤgen aus der Speku-
lation als ſeiner eigenen Arbeit, wenn er ſie verfertiget,
und ſich ihrer zuweilen erinnert. Aber ſo bald ſich ein
wirklicher Gegenſtand antreffen laͤßt, der unter dem
Gemeinbegrif enthalten iſt, ſo gleich wird die ganze Theo-
rie auf ihn angewendet, und dann enthaͤlt ſie nun wahre
und nothwendige Verhaͤltniſſe dieſes Gegenſtandes auf
andere in ſich. Die mathematiſche Theorie von den Ke-
gelſchnitten, und beſonders von der Ellipſis ward zu ei-
ner Kenntniß von den Bahnen der Planeten, als Kep-
ler aus Beobachtungen bewieſen hatte, daß dieſe krum-
me Linien ſolche Ellipſen ſind.

Dieſe Theorien ſind, von einer Seite betrachtet,
kuͤnſtliche Huͤlfsmittel des Verſtandes. Sie ſind
ihm, was die Vergroͤßerungsglaͤſer und die Fernglaͤſer
den Augen ſind, oder die Bewafnung dem natuͤrlichen
Magneten. Es war ſehr natuͤrlich, ein ſolches Huͤlfs-
mittel zu ſuchen, ob es gleich lange gedauert hat, ehe
man damit einigermaaßen zu Stande gekommen iſt,
denn hiebey fieng ſich erſt das eigentliche Philoſophiren an.
Nichts iſt natuͤrlicher, als daß wir eine Sache, die wir
genau unterſuchen wollen, erſt von einer Seite nachfor-
ſchen, darauf von der andern, und alsdenn dieſe ver-
ſchiedene Gedanken mit einander vergleichen und verbin-
den. Durch die Erlernung der allgemeinen Theorien er-
haͤlt man ſonſten nichts, als ſolche verſchiedene Beobach-
tungen der Dinge von gewiſſen Seiten, die man als ei-
nen Vorrath zum kuͤnftigen Gebrauch ſich verfertiget
hat.

Der gemeine Verſtand hat unter ſeinen Kenntniſſen
auch allgemeine Begriffe und allgemeine Grundſaͤtze,
aber er hat ſie nicht in ihrer Allgemeinheit und noch we-
niger in ihrer beſtimmten Allgemeinheit vor ſich, und

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[573/0633] der hoͤhern Kenntniſſe ⁊c. durch den Begrif vorgeſtellet werden, ſind ſie nichts, als bloße ruhende Jdeenreihen, wovon der Verſtand keinen andern Nutzen hat, als das Vergnuͤgen aus der Speku- lation als ſeiner eigenen Arbeit, wenn er ſie verfertiget, und ſich ihrer zuweilen erinnert. Aber ſo bald ſich ein wirklicher Gegenſtand antreffen laͤßt, der unter dem Gemeinbegrif enthalten iſt, ſo gleich wird die ganze Theo- rie auf ihn angewendet, und dann enthaͤlt ſie nun wahre und nothwendige Verhaͤltniſſe dieſes Gegenſtandes auf andere in ſich. Die mathematiſche Theorie von den Ke- gelſchnitten, und beſonders von der Ellipſis ward zu ei- ner Kenntniß von den Bahnen der Planeten, als Kep- ler aus Beobachtungen bewieſen hatte, daß dieſe krum- me Linien ſolche Ellipſen ſind. Dieſe Theorien ſind, von einer Seite betrachtet, kuͤnſtliche Huͤlfsmittel des Verſtandes. Sie ſind ihm, was die Vergroͤßerungsglaͤſer und die Fernglaͤſer den Augen ſind, oder die Bewafnung dem natuͤrlichen Magneten. Es war ſehr natuͤrlich, ein ſolches Huͤlfs- mittel zu ſuchen, ob es gleich lange gedauert hat, ehe man damit einigermaaßen zu Stande gekommen iſt, denn hiebey fieng ſich erſt das eigentliche Philoſophiren an. Nichts iſt natuͤrlicher, als daß wir eine Sache, die wir genau unterſuchen wollen, erſt von einer Seite nachfor- ſchen, darauf von der andern, und alsdenn dieſe ver- ſchiedene Gedanken mit einander vergleichen und verbin- den. Durch die Erlernung der allgemeinen Theorien er- haͤlt man ſonſten nichts, als ſolche verſchiedene Beobach- tungen der Dinge von gewiſſen Seiten, die man als ei- nen Vorrath zum kuͤnftigen Gebrauch ſich verfertiget hat. Der gemeine Verſtand hat unter ſeinen Kenntniſſen auch allgemeine Begriffe und allgemeine Grundſaͤtze, aber er hat ſie nicht in ihrer Allgemeinheit und noch we- niger in ihrer beſtimmten Allgemeinheit vor ſich, und verbin-

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Zitationshilfe: Tetens, Johann Nicolas: Philosophische Versuche über die menschliche Natur und ihre Entwickelung. Bd. 1. Leipzig, 1777, S. 573. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/tetens_versuche01_1777/633>, abgerufen am 17.06.2024.