Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Tetens, Johann Nicolas: Philosophische Versuche über die menschliche Natur und ihre Entwickelung. Bd. 1. Leipzig, 1777.

Bild:
<< vorherige Seite

der allgem. Vernunftwahrheiten, etc.
von ganzem Herzen Meinungen für richtig hält, die der
natürlichen Art zu denken so sehr entgegen sind, als die-
se; so ist es nicht nöthig, mit noch mehrern und stärkern
Gründen die gewöhnlichen Aussprüche des gemeinen
Menschenverstandes zu bestätigen, sondern es ist genug,
wenn man nur das Grundleere der entgegenstehenden
Zweifel ins Licht setzet. Denn wenn dieß geschehen ist,
so wird ihr natürlicher Menschenverstand, der eben so
wenig etwas ohne Grund abläugnen, und annehmen
kann, als anderer Menschen ihrer, auch von selbst sei-
nen Weg fortwandern, und so urtheilen, wie er vorher
urtheilte, ehe er auf die neuen Vernünfteleyen gerathen
war. Das äußerste würde noch seyn, daß er sich in sei-
nen Zweifeln fest hielte. Aber daß jemand unter der
hier angenommenen Bedingung, er sey von dem Un-
grund seines Skepticismus in Fällen, wo es auf Mei-
nungen des Sensus kommunis ankommt, überzeugt,
nun in sich eine innere Beystimmung des Verstandes
und Ueberzeugung erzwingen, und diese in sich erhalten
könnte; dieß ist eine physische Unmöglichkeit. Bis hie-
her hat die Vernunft eine Medicin gegen Krankheiten
des spekulativischen Geistes. Aber die Deklamation,
und auch die schönste Deklamation wird keinen Berke-
ley
oder Hume von seiner Meinung abbringen, noch
einem Leibnitz die Ueberzeugung von der Harmonie be-
nehmen. Die Deklamation ist recht gut; aber sie wir-
ket nur allemal da an ihrer rechten Stelle, wo die Ver-
nunft entweder einen Vorläufer nöthig hat, der ihr Platz
mache, oder wo diese gar nicht hinkommen kann, oder
wo sie das Jhrige schon gethan hat.

8.

Es giebt aber andere Fälle, wo der Verhältnißge-
danke, "daß ein Ding die Ursache von einem andern sey,"

schlecht-
I. Band. J i

der allgem. Vernunftwahrheiten, ⁊c.
von ganzem Herzen Meinungen fuͤr richtig haͤlt, die der
natuͤrlichen Art zu denken ſo ſehr entgegen ſind, als die-
ſe; ſo iſt es nicht noͤthig, mit noch mehrern und ſtaͤrkern
Gruͤnden die gewoͤhnlichen Ausſpruͤche des gemeinen
Menſchenverſtandes zu beſtaͤtigen, ſondern es iſt genug,
wenn man nur das Grundleere der entgegenſtehenden
Zweifel ins Licht ſetzet. Denn wenn dieß geſchehen iſt,
ſo wird ihr natuͤrlicher Menſchenverſtand, der eben ſo
wenig etwas ohne Grund ablaͤugnen, und annehmen
kann, als anderer Menſchen ihrer, auch von ſelbſt ſei-
nen Weg fortwandern, und ſo urtheilen, wie er vorher
urtheilte, ehe er auf die neuen Vernuͤnfteleyen gerathen
war. Das aͤußerſte wuͤrde noch ſeyn, daß er ſich in ſei-
nen Zweifeln feſt hielte. Aber daß jemand unter der
hier angenommenen Bedingung, er ſey von dem Un-
grund ſeines Skepticismus in Faͤllen, wo es auf Mei-
nungen des Senſus kommunis ankommt, uͤberzeugt,
nun in ſich eine innere Beyſtimmung des Verſtandes
und Ueberzeugung erzwingen, und dieſe in ſich erhalten
koͤnnte; dieß iſt eine phyſiſche Unmoͤglichkeit. Bis hie-
her hat die Vernunft eine Medicin gegen Krankheiten
des ſpekulativiſchen Geiſtes. Aber die Deklamation,
und auch die ſchoͤnſte Deklamation wird keinen Berke-
ley
oder Hume von ſeiner Meinung abbringen, noch
einem Leibnitz die Ueberzeugung von der Harmonie be-
nehmen. Die Deklamation iſt recht gut; aber ſie wir-
ket nur allemal da an ihrer rechten Stelle, wo die Ver-
nunft entweder einen Vorlaͤufer noͤthig hat, der ihr Platz
mache, oder wo dieſe gar nicht hinkommen kann, oder
wo ſie das Jhrige ſchon gethan hat.

8.

Es giebt aber andere Faͤlle, wo der Verhaͤltnißge-
danke, „daß ein Ding die Urſache von einem andern ſey,‟

ſchlecht-
I. Band. J i
<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <div n="2">
          <div n="3">
            <p><pb facs="#f0557" n="497"/><fw place="top" type="header"><hi rendition="#b">der allgem. Vernunftwahrheiten, &#x204A;c.</hi></fw><lb/>
von ganzem Herzen Meinungen fu&#x0364;r richtig ha&#x0364;lt, die der<lb/>
natu&#x0364;rlichen Art zu denken &#x017F;o &#x017F;ehr entgegen &#x017F;ind, als die-<lb/>
&#x017F;e; &#x017F;o i&#x017F;t es nicht no&#x0364;thig, mit noch mehrern und &#x017F;ta&#x0364;rkern<lb/>
Gru&#x0364;nden die gewo&#x0364;hnlichen Aus&#x017F;pru&#x0364;che des gemeinen<lb/>
Men&#x017F;chenver&#x017F;tandes zu be&#x017F;ta&#x0364;tigen, &#x017F;ondern es i&#x017F;t genug,<lb/>
wenn man nur das Grundleere der entgegen&#x017F;tehenden<lb/>
Zweifel ins Licht &#x017F;etzet. Denn wenn dieß ge&#x017F;chehen i&#x017F;t,<lb/>
&#x017F;o wird ihr natu&#x0364;rlicher Men&#x017F;chenver&#x017F;tand, der eben &#x017F;o<lb/>
wenig etwas ohne Grund abla&#x0364;ugnen, und annehmen<lb/>
kann, als anderer Men&#x017F;chen ihrer, auch von &#x017F;elb&#x017F;t &#x017F;ei-<lb/>
nen Weg fortwandern, und &#x017F;o urtheilen, wie er vorher<lb/>
urtheilte, ehe er auf die neuen Vernu&#x0364;nfteleyen gerathen<lb/>
war. Das a&#x0364;ußer&#x017F;te wu&#x0364;rde noch &#x017F;eyn, daß er &#x017F;ich in &#x017F;ei-<lb/>
nen Zweifeln fe&#x017F;t hielte. Aber daß jemand unter der<lb/>
hier angenommenen Bedingung, er &#x017F;ey von dem Un-<lb/>
grund &#x017F;eines Skepticismus in Fa&#x0364;llen, wo es auf Mei-<lb/>
nungen des Sen&#x017F;us kommunis ankommt, u&#x0364;berzeugt,<lb/>
nun in &#x017F;ich eine innere Bey&#x017F;timmung des Ver&#x017F;tandes<lb/>
und Ueberzeugung erzwingen, und die&#x017F;e in &#x017F;ich erhalten<lb/>
ko&#x0364;nnte; dieß i&#x017F;t eine phy&#x017F;i&#x017F;che Unmo&#x0364;glichkeit. Bis hie-<lb/>
her hat die Vernunft eine Medicin gegen Krankheiten<lb/>
des &#x017F;pekulativi&#x017F;chen Gei&#x017F;tes. Aber die Deklamation,<lb/>
und auch die &#x017F;cho&#x0364;n&#x017F;te Deklamation wird keinen <hi rendition="#fr">Berke-<lb/>
ley</hi> oder <hi rendition="#fr">Hume</hi> von &#x017F;einer Meinung abbringen, noch<lb/>
einem <hi rendition="#fr">Leibnitz</hi> die Ueberzeugung von der Harmonie be-<lb/>
nehmen. Die Deklamation i&#x017F;t recht gut; aber &#x017F;ie wir-<lb/>
ket nur allemal da an ihrer rechten Stelle, wo die Ver-<lb/>
nunft entweder einen Vorla&#x0364;ufer no&#x0364;thig hat, der ihr Platz<lb/>
mache, oder wo die&#x017F;e gar nicht hinkommen kann, oder<lb/>
wo &#x017F;ie das Jhrige &#x017F;chon gethan hat.</p>
          </div><lb/>
          <div n="3">
            <head>8.</head><lb/>
            <p>Es giebt aber andere Fa&#x0364;lle, wo der Verha&#x0364;ltnißge-<lb/>
danke, &#x201E;daß ein Ding die Ur&#x017F;ache von einem andern &#x017F;ey,&#x201F;<lb/>
<fw place="bottom" type="sig"><hi rendition="#aq">I.</hi><hi rendition="#fr">Band.</hi> J i</fw><fw place="bottom" type="catch"><hi rendition="#fr">&#x017F;chlecht-</hi></fw><lb/></p>
          </div>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[497/0557] der allgem. Vernunftwahrheiten, ⁊c. von ganzem Herzen Meinungen fuͤr richtig haͤlt, die der natuͤrlichen Art zu denken ſo ſehr entgegen ſind, als die- ſe; ſo iſt es nicht noͤthig, mit noch mehrern und ſtaͤrkern Gruͤnden die gewoͤhnlichen Ausſpruͤche des gemeinen Menſchenverſtandes zu beſtaͤtigen, ſondern es iſt genug, wenn man nur das Grundleere der entgegenſtehenden Zweifel ins Licht ſetzet. Denn wenn dieß geſchehen iſt, ſo wird ihr natuͤrlicher Menſchenverſtand, der eben ſo wenig etwas ohne Grund ablaͤugnen, und annehmen kann, als anderer Menſchen ihrer, auch von ſelbſt ſei- nen Weg fortwandern, und ſo urtheilen, wie er vorher urtheilte, ehe er auf die neuen Vernuͤnfteleyen gerathen war. Das aͤußerſte wuͤrde noch ſeyn, daß er ſich in ſei- nen Zweifeln feſt hielte. Aber daß jemand unter der hier angenommenen Bedingung, er ſey von dem Un- grund ſeines Skepticismus in Faͤllen, wo es auf Mei- nungen des Senſus kommunis ankommt, uͤberzeugt, nun in ſich eine innere Beyſtimmung des Verſtandes und Ueberzeugung erzwingen, und dieſe in ſich erhalten koͤnnte; dieß iſt eine phyſiſche Unmoͤglichkeit. Bis hie- her hat die Vernunft eine Medicin gegen Krankheiten des ſpekulativiſchen Geiſtes. Aber die Deklamation, und auch die ſchoͤnſte Deklamation wird keinen Berke- ley oder Hume von ſeiner Meinung abbringen, noch einem Leibnitz die Ueberzeugung von der Harmonie be- nehmen. Die Deklamation iſt recht gut; aber ſie wir- ket nur allemal da an ihrer rechten Stelle, wo die Ver- nunft entweder einen Vorlaͤufer noͤthig hat, der ihr Platz mache, oder wo dieſe gar nicht hinkommen kann, oder wo ſie das Jhrige ſchon gethan hat. 8. Es giebt aber andere Faͤlle, wo der Verhaͤltnißge- danke, „daß ein Ding die Urſache von einem andern ſey,‟ ſchlecht- I. Band. J i

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien im Double-Keying-Verfahren von Nicht-Muttersprachlern erfasst und in XML/TEI P5 nach DTA-Basisformat kodiert.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/tetens_versuche01_1777
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/tetens_versuche01_1777/557
Zitationshilfe: Tetens, Johann Nicolas: Philosophische Versuche über die menschliche Natur und ihre Entwickelung. Bd. 1. Leipzig, 1777, S. 497. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/tetens_versuche01_1777/557>, abgerufen am 24.11.2024.