allgemeinen Verhältnißgedanken bey den allgemeinen Begriffen nicht eben so in der Natur der Denkkraft ge- gründet, als es die ersten sinnlichsten Urtheile sind, wo sinnliche Eindrücke gegen einander gehalten werden?
Jn diesen Fragen liegen drey Gründe, die jener Meinung ganz entgegen sind.
Erstlich werden wir von den nothwendigen Grund- wahrheiten so gleich das erstemal überzeuget, da wir sie fassen und verstehen. Ein Exempel darf nur ange- führet werden, um uns zu lehren, was sie eigentlich sa- gen wollen; nicht aber, um sie zu beweisen. Ganz an- ders verhält es sich mit den allgemeinen Beobachtungs- sätzen, wo wenigstens mehrere Beyspiele nöthig sind.
Dann zweytens ist auch die Art, wie der Verstand jenen Axiomen Beyfall giebet, verschieden von derjeni- gen, womit Erfahrungssätze für allgemeine Wahrheiten erkannt werden. Ein viereckter Zirkel ist ein Unding. Jedes Ding ist sich selbst gleich. Ohne Ursache wird Nichts. Der Triangel hat drey Winkel u. s. f. Dieß kann ich nicht läugnen, weil ichs gar nicht anders den- ken kann; alles Bestrebens ohngeachtet, und es bedarf weiter keines Grundes, um meinen Beyfall zu erzwin- gen, da es, wie wir sagen, für sich evident ist. Aber bey allgemeinen Erfahrungen sehe ich mich nach den ein- zelnen Fällen um, in welchen das Allgemeine vorkommt. Je mehr mir solcher Fälle bekannt werden, desto mehr wächset meine Ueberzeugung, die hier einer Zunahme fähig ist; bey jenen Grundsätzen aber nicht.
Drittens ist ja für sich wahrscheinlich, da die ersten unmittelbaren sinnlichen Verhältnißgedanken natürliche Aeußerungen der Denkkraft bey den Vorstellungen sind, so werden jene einfachen allgemeinen Verhältnißgedanken auf eine ähnliche Weise entstehen, das ist, sie werden natürliche Wirkungen seyn, die nach den Na- turgesetzen der Denkkraft durch dieser ihre Thätig-
keiten
G g 2
der ſinnlich. Kenntn. u. d. vernuͤnftigen.
allgemeinen Verhaͤltnißgedanken bey den allgemeinen Begriffen nicht eben ſo in der Natur der Denkkraft ge- gruͤndet, als es die erſten ſinnlichſten Urtheile ſind, wo ſinnliche Eindruͤcke gegen einander gehalten werden?
Jn dieſen Fragen liegen drey Gruͤnde, die jener Meinung ganz entgegen ſind.
Erſtlich werden wir von den nothwendigen Grund- wahrheiten ſo gleich das erſtemal uͤberzeuget, da wir ſie faſſen und verſtehen. Ein Exempel darf nur ange- fuͤhret werden, um uns zu lehren, was ſie eigentlich ſa- gen wollen; nicht aber, um ſie zu beweiſen. Ganz an- ders verhaͤlt es ſich mit den allgemeinen Beobachtungs- ſaͤtzen, wo wenigſtens mehrere Beyſpiele noͤthig ſind.
Dann zweytens iſt auch die Art, wie der Verſtand jenen Axiomen Beyfall giebet, verſchieden von derjeni- gen, womit Erfahrungsſaͤtze fuͤr allgemeine Wahrheiten erkannt werden. Ein viereckter Zirkel iſt ein Unding. Jedes Ding iſt ſich ſelbſt gleich. Ohne Urſache wird Nichts. Der Triangel hat drey Winkel u. ſ. f. Dieß kann ich nicht laͤugnen, weil ichs gar nicht anders den- ken kann; alles Beſtrebens ohngeachtet, und es bedarf weiter keines Grundes, um meinen Beyfall zu erzwin- gen, da es, wie wir ſagen, fuͤr ſich evident iſt. Aber bey allgemeinen Erfahrungen ſehe ich mich nach den ein- zelnen Faͤllen um, in welchen das Allgemeine vorkommt. Je mehr mir ſolcher Faͤlle bekannt werden, deſto mehr waͤchſet meine Ueberzeugung, die hier einer Zunahme faͤhig iſt; bey jenen Grundſaͤtzen aber nicht.
Drittens iſt ja fuͤr ſich wahrſcheinlich, da die erſten unmittelbaren ſinnlichen Verhaͤltnißgedanken natuͤrliche Aeußerungen der Denkkraft bey den Vorſtellungen ſind, ſo werden jene einfachen allgemeinen Verhaͤltnißgedanken auf eine aͤhnliche Weiſe entſtehen, das iſt, ſie werden natuͤrliche Wirkungen ſeyn, die nach den Na- turgeſetzen der Denkkraft durch dieſer ihre Thaͤtig-
keiten
G g 2
<TEI><text><body><divn="1"><divn="2"><divn="3"><p><pbfacs="#f0527"n="467"/><fwplace="top"type="header"><hirendition="#b">der ſinnlich. Kenntn. u. d. vernuͤnftigen.</hi></fw><lb/>
allgemeinen Verhaͤltnißgedanken bey den allgemeinen<lb/>
Begriffen nicht eben ſo in der Natur der Denkkraft ge-<lb/>
gruͤndet, als es die erſten ſinnlichſten Urtheile ſind, wo<lb/>ſinnliche Eindruͤcke gegen einander gehalten werden?</p><lb/><p>Jn dieſen Fragen liegen drey Gruͤnde, die jener<lb/>
Meinung ganz entgegen ſind.</p><lb/><p><hirendition="#fr">Erſtlich</hi> werden wir von den nothwendigen Grund-<lb/>
wahrheiten ſo gleich das <hirendition="#fr">erſtemal</hi> uͤberzeuget, da wir<lb/>ſie faſſen und verſtehen. Ein Exempel darf nur ange-<lb/>
fuͤhret werden, um uns zu lehren, was ſie eigentlich ſa-<lb/>
gen wollen; nicht aber, um ſie zu beweiſen. Ganz an-<lb/>
ders verhaͤlt es ſich mit den allgemeinen Beobachtungs-<lb/>ſaͤtzen, wo wenigſtens mehrere Beyſpiele noͤthig ſind.</p><lb/><p>Dann <hirendition="#fr">zweytens</hi> iſt auch die Art, wie der Verſtand<lb/>
jenen Axiomen Beyfall giebet, verſchieden von derjeni-<lb/>
gen, womit Erfahrungsſaͤtze fuͤr allgemeine Wahrheiten<lb/>
erkannt werden. Ein viereckter Zirkel iſt ein Unding.<lb/>
Jedes Ding iſt ſich ſelbſt gleich. Ohne Urſache wird<lb/>
Nichts. Der Triangel hat drey Winkel u. ſ. f. Dieß<lb/>
kann ich nicht laͤugnen, weil ichs gar nicht anders den-<lb/>
ken kann; alles Beſtrebens ohngeachtet, und es bedarf<lb/>
weiter keines Grundes, um meinen Beyfall zu erzwin-<lb/>
gen, da es, wie wir ſagen, fuͤr ſich evident iſt. Aber<lb/>
bey allgemeinen Erfahrungen ſehe ich mich nach den ein-<lb/>
zelnen Faͤllen um, in welchen das Allgemeine vorkommt.<lb/>
Je mehr mir ſolcher Faͤlle bekannt werden, deſto mehr<lb/>
waͤchſet meine Ueberzeugung, die hier einer Zunahme<lb/>
faͤhig iſt; bey jenen Grundſaͤtzen aber nicht.</p><lb/><p><hirendition="#fr">Drittens</hi> iſt ja fuͤr ſich wahrſcheinlich, da die erſten<lb/>
unmittelbaren ſinnlichen Verhaͤltnißgedanken natuͤrliche<lb/>
Aeußerungen der Denkkraft bey den Vorſtellungen ſind,<lb/>ſo werden jene einfachen allgemeinen Verhaͤltnißgedanken<lb/>
auf eine aͤhnliche Weiſe entſtehen, das iſt, ſie werden<lb/><hirendition="#fr">natuͤrliche Wirkungen ſeyn, die nach den Na-<lb/>
turgeſetzen der Denkkraft</hi> durch dieſer ihre Thaͤtig-<lb/><fwplace="bottom"type="sig">G g 2</fw><fwplace="bottom"type="catch">keiten</fw><lb/></p></div></div></div></body></text></TEI>
[467/0527]
der ſinnlich. Kenntn. u. d. vernuͤnftigen.
allgemeinen Verhaͤltnißgedanken bey den allgemeinen
Begriffen nicht eben ſo in der Natur der Denkkraft ge-
gruͤndet, als es die erſten ſinnlichſten Urtheile ſind, wo
ſinnliche Eindruͤcke gegen einander gehalten werden?
Jn dieſen Fragen liegen drey Gruͤnde, die jener
Meinung ganz entgegen ſind.
Erſtlich werden wir von den nothwendigen Grund-
wahrheiten ſo gleich das erſtemal uͤberzeuget, da wir
ſie faſſen und verſtehen. Ein Exempel darf nur ange-
fuͤhret werden, um uns zu lehren, was ſie eigentlich ſa-
gen wollen; nicht aber, um ſie zu beweiſen. Ganz an-
ders verhaͤlt es ſich mit den allgemeinen Beobachtungs-
ſaͤtzen, wo wenigſtens mehrere Beyſpiele noͤthig ſind.
Dann zweytens iſt auch die Art, wie der Verſtand
jenen Axiomen Beyfall giebet, verſchieden von derjeni-
gen, womit Erfahrungsſaͤtze fuͤr allgemeine Wahrheiten
erkannt werden. Ein viereckter Zirkel iſt ein Unding.
Jedes Ding iſt ſich ſelbſt gleich. Ohne Urſache wird
Nichts. Der Triangel hat drey Winkel u. ſ. f. Dieß
kann ich nicht laͤugnen, weil ichs gar nicht anders den-
ken kann; alles Beſtrebens ohngeachtet, und es bedarf
weiter keines Grundes, um meinen Beyfall zu erzwin-
gen, da es, wie wir ſagen, fuͤr ſich evident iſt. Aber
bey allgemeinen Erfahrungen ſehe ich mich nach den ein-
zelnen Faͤllen um, in welchen das Allgemeine vorkommt.
Je mehr mir ſolcher Faͤlle bekannt werden, deſto mehr
waͤchſet meine Ueberzeugung, die hier einer Zunahme
faͤhig iſt; bey jenen Grundſaͤtzen aber nicht.
Drittens iſt ja fuͤr ſich wahrſcheinlich, da die erſten
unmittelbaren ſinnlichen Verhaͤltnißgedanken natuͤrliche
Aeußerungen der Denkkraft bey den Vorſtellungen ſind,
ſo werden jene einfachen allgemeinen Verhaͤltnißgedanken
auf eine aͤhnliche Weiſe entſtehen, das iſt, ſie werden
natuͤrliche Wirkungen ſeyn, die nach den Na-
turgeſetzen der Denkkraft durch dieſer ihre Thaͤtig-
keiten
G g 2
Informationen zur CAB-Ansicht
Diese Ansicht bietet Ihnen die Darstellung des Textes in normalisierter Orthographie.
Diese Textvariante wird vollautomatisch erstellt und kann aufgrund dessen auch Fehler enthalten.
Alle veränderten Wortformen sind grau hinterlegt. Als fremdsprachliches Material erkannte
Textteile sind ausgegraut dargestellt.
Tetens, Johann Nicolas: Philosophische Versuche über die menschliche Natur und ihre Entwickelung. Bd. 1. Leipzig, 1777, S. 467. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/tetens_versuche01_1777/527>, abgerufen am 18.12.2024.
Alle Inhalte dieser Seite unterstehen, soweit nicht anders gekennzeichnet, einer
Creative-Commons-Lizenz.
Die Rechte an den angezeigten Bilddigitalisaten, soweit nicht anders gekennzeichnet, liegen bei den besitzenden Bibliotheken.
Weitere Informationen finden Sie in den DTA-Nutzungsbedingungen.
Insbesondere im Hinblick auf die §§ 86a StGB und 130 StGB wird festgestellt, dass die auf
diesen Seiten abgebildeten Inhalte weder in irgendeiner Form propagandistischen Zwecken
dienen, oder Werbung für verbotene Organisationen oder Vereinigungen darstellen, oder
nationalsozialistische Verbrechen leugnen oder verharmlosen, noch zum Zwecke der
Herabwürdigung der Menschenwürde gezeigt werden.
Die auf diesen Seiten abgebildeten Inhalte (in Wort und Bild) dienen im Sinne des
§ 86 StGB Abs. 3 ausschließlich historischen, sozial- oder kulturwissenschaftlichen
Forschungszwecken. Ihre Veröffentlichung erfolgt in der Absicht, Wissen zur Anregung
der intellektuellen Selbstständigkeit und Verantwortungsbereitschaft des Staatsbürgers zu
vermitteln und damit der Förderung seiner Mündigkeit zu dienen.
Zitierempfehlung: Deutsches Textarchiv. Grundlage für ein Referenzkorpus der neuhochdeutschen Sprache. Herausgegeben von der Berlin-Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften, Berlin 2024. URL: https://www.deutschestextarchiv.de/.