Gleichheit schon in Verbindung mit der sichtlichen Gleichheit vorhanden seyn, ehe das Prädikat, welches beide in sich faßt, mit Vorstellungen verbunden wird, die nicht aus dem Gefühl, sondern aus dem Sinn des Ge- sichts allein entstehen, und es ist eine schlußartige Ver- bindung der Vorstellungen mittelst einer Vergleichung der gegenwärtigen und der vergangenen Empfindungen, wenn der Begrif von der völligen Gleichheit solchen Din- gen beygeleget wird, deren sichtliche Gleichheit nur em- pfunden wird. Der Cheßeldenische Blinde konnte also aus einer zwiefachen Ursache im Anfang nach seinen Ge- sichtsbildern nicht urtheilen. Theils fehlte bey ihm die Verbindung der sichtlichen Gleichheit, mit der Gleich- heit die aus Gefühlsvorstellungen abstrahiret wird; und dieß war der vornehmste Mangel, theils aber fehlte es an einer Fertigkeit, auf die Kennzeichen der Verhältnis- se in den Gesichtsempfindungen, das ist, auf die sicht- lichen Verhältnisse acht zu haben, und sie geschwinde genug gewahrzunehmen.
Endlich ist noch zu bemerken. Wenn dem gedach- ten Blinden zwey sichtlich gleiche Objekte vorgeleget worden wären, so würde in diesen beiden Gesichtsem- pfindungen alles vorhanden gewesen seyn, was seine Denkkraft, sobald jene Vorstellungen gegen einander ge- halten wurden, zu einem ähnlichen urtheilenden Aktus, und also zur Hervorbringung des ähnlichen Verhältnißgedan- kens, nemlich der Gleichheit, reizen konnte, dergleichen sonsten bey zwey gleichen Gefühlen bey ihm entstanden war. Diese Wirkung würde nothwendig, wenigstens natürlich, und alsdenn ein unmittelbares Urtheil gewe- sen seyn. Aber würde er das Verhältniß, was er auf diese Art in gesehenen Dingen bemerket, wohl eine Gleichheit genannt haben? Jch antworte, ja, aber nicht ehe, als bis er bemerket, daß es derselbige Aktus und derselbige Gedanke sey, der schon bey gleichen Ge-
fühlen
VI. Verſuch. Ueber den Unterſchied
Gleichheit ſchon in Verbindung mit der ſichtlichen Gleichheit vorhanden ſeyn, ehe das Praͤdikat, welches beide in ſich faßt, mit Vorſtellungen verbunden wird, die nicht aus dem Gefuͤhl, ſondern aus dem Sinn des Ge- ſichts allein entſtehen, und es iſt eine ſchlußartige Ver- bindung der Vorſtellungen mittelſt einer Vergleichung der gegenwaͤrtigen und der vergangenen Empfindungen, wenn der Begrif von der voͤlligen Gleichheit ſolchen Din- gen beygeleget wird, deren ſichtliche Gleichheit nur em- pfunden wird. Der Cheßeldeniſche Blinde konnte alſo aus einer zwiefachen Urſache im Anfang nach ſeinen Ge- ſichtsbildern nicht urtheilen. Theils fehlte bey ihm die Verbindung der ſichtlichen Gleichheit, mit der Gleich- heit die aus Gefuͤhlsvorſtellungen abſtrahiret wird; und dieß war der vornehmſte Mangel, theils aber fehlte es an einer Fertigkeit, auf die Kennzeichen der Verhaͤltniſ- ſe in den Geſichtsempfindungen, das iſt, auf die ſicht- lichen Verhaͤltniſſe acht zu haben, und ſie geſchwinde genug gewahrzunehmen.
Endlich iſt noch zu bemerken. Wenn dem gedach- ten Blinden zwey ſichtlich gleiche Objekte vorgeleget worden waͤren, ſo wuͤrde in dieſen beiden Geſichtsem- pfindungen alles vorhanden geweſen ſeyn, was ſeine Denkkraft, ſobald jene Vorſtellungen gegen einander ge- halten wurden, zu einem aͤhnlichen urtheilenden Aktus, und alſo zur Hervorbringung des aͤhnlichen Verhaͤltnißgedan- kens, nemlich der Gleichheit, reizen konnte, dergleichen ſonſten bey zwey gleichen Gefuͤhlen bey ihm entſtanden war. Dieſe Wirkung wuͤrde nothwendig, wenigſtens natuͤrlich, und alsdenn ein unmittelbares Urtheil gewe- ſen ſeyn. Aber wuͤrde er das Verhaͤltniß, was er auf dieſe Art in geſehenen Dingen bemerket, wohl eine Gleichheit genannt haben? Jch antworte, ja, aber nicht ehe, als bis er bemerket, daß es derſelbige Aktus und derſelbige Gedanke ſey, der ſchon bey gleichen Ge-
fuͤhlen
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VI. Verſuch. Ueber den Unterſchied
Gleichheit ſchon in Verbindung mit der ſichtlichen
Gleichheit vorhanden ſeyn, ehe das Praͤdikat, welches
beide in ſich faßt, mit Vorſtellungen verbunden wird, die
nicht aus dem Gefuͤhl, ſondern aus dem Sinn des Ge-
ſichts allein entſtehen, und es iſt eine ſchlußartige Ver-
bindung der Vorſtellungen mittelſt einer Vergleichung
der gegenwaͤrtigen und der vergangenen Empfindungen,
wenn der Begrif von der voͤlligen Gleichheit ſolchen Din-
gen beygeleget wird, deren ſichtliche Gleichheit nur em-
pfunden wird. Der Cheßeldeniſche Blinde konnte alſo
aus einer zwiefachen Urſache im Anfang nach ſeinen Ge-
ſichtsbildern nicht urtheilen. Theils fehlte bey ihm die
Verbindung der ſichtlichen Gleichheit, mit der Gleich-
heit die aus Gefuͤhlsvorſtellungen abſtrahiret wird; und
dieß war der vornehmſte Mangel, theils aber fehlte es
an einer Fertigkeit, auf die Kennzeichen der Verhaͤltniſ-
ſe in den Geſichtsempfindungen, das iſt, auf die ſicht-
lichen Verhaͤltniſſe acht zu haben, und ſie geſchwinde
genug gewahrzunehmen.
Endlich iſt noch zu bemerken. Wenn dem gedach-
ten Blinden zwey ſichtlich gleiche Objekte vorgeleget
worden waͤren, ſo wuͤrde in dieſen beiden Geſichtsem-
pfindungen alles vorhanden geweſen ſeyn, was ſeine
Denkkraft, ſobald jene Vorſtellungen gegen einander ge-
halten wurden, zu einem aͤhnlichen urtheilenden Aktus, und
alſo zur Hervorbringung des aͤhnlichen Verhaͤltnißgedan-
kens, nemlich der Gleichheit, reizen konnte, dergleichen
ſonſten bey zwey gleichen Gefuͤhlen bey ihm entſtanden
war. Dieſe Wirkung wuͤrde nothwendig, wenigſtens
natuͤrlich, und alsdenn ein unmittelbares Urtheil gewe-
ſen ſeyn. Aber wuͤrde er das Verhaͤltniß, was er auf
dieſe Art in geſehenen Dingen bemerket, wohl eine
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Tetens, Johann Nicolas: Philosophische Versuche über die menschliche Natur und ihre Entwickelung. Bd. 1. Leipzig, 1777, S. 458. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/tetens_versuche01_1777/518>, abgerufen am 22.11.2024.
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